Glueckstreffer - Roman
offenbar eine Bedeutung. Deshalb sollte ich vielleicht einiges erklären. Über den Unfall, den Sie beide erlebt haben, weiß ich nicht viel. Aber über die Familie Barnes kann ich einiges erzählen.«
Evalynn und Sophie brühten sich je ein Tütchen Kräutertee mit Orangenaroma auf, während Meredith berichtete. Alex hörte zu, die Augen hinter dunklen Gläsern verborgen.
»Jacob und Katherine Barnes waren beide Anwälte«, hob Meredith an. »Partner in einer großen Kanzlei im Zentrum von Seattle. Als Katherine schwanger wurde, suchten sie nach einem Kindermädchen, das Katherine unterstützen sollte, sobald das Baby geboren war.« Meredith trank einen Schluck Tee. »Eine Woche vor der Geburt haben sie mich eingestellt.« Meredith warf Alex einen unsicheren Blick zu, fuhr dann jedoch fort: »Es war eine schwere Geburt. Es gab … Komplikationen … Katherine hat sie nicht überlebt.«
Im Raum war es plötzlich still. Nur Alex bewegte sich, kratzte sich verlegen am Ohr.
Meredith zuckte die Achseln. »Damit hatte ich plötzlich einen Fulltime-Job. Zumindest in den ersten Jahren, bis Alex alt genug war, um tagsüber in die Schule zu gehen. Aber solange er klein war, habe ich praktisch wie eine Mutter für ihn gesorgt.«
»Und seither sind Sie für die Familie da?«, fragte Ellen.
Meredith nickte. »Wie sehr ich gebraucht wurde, hing von Alex’ Bedürfnissen und Jacobs Terminkalender ab. Aber für Alex zu sorgen, war immer eine Freude. Ich hätte mir keine schönere Aufgabe wünschen können. Irgendwann habe ich geheiratet und eine eigene Familie gegründet. Meine beiden Kinder sind mittlerweile im Teenageralter, und wie ich sie kenne, streiten sie sich sicher gerade darüber, wer Nintendo spielen darf. Jedenfalls ist es mir gelungen, mich neben meiner Familie auch um den Haushalt der Barnes’ zu kümmern. Als Jacob an Leukämie erkrankte, hat er das Haus nebenan gekauft, damit ich immer in der Nähe sein konnte und es nicht so weit zu meiner Familie hatte. Und natürlich um zu vermeiden, dass Alex in ein Heim käme, sobald er selbst … sich nicht mehr kümmern konnte. Ich bin noch immer eine Angestellte der Familie Barnes – ich werde von einem Trust bezahlt –, obwohl Alex schon längst ein Mitglied meiner eigenen Familie ist. Und das wird auch so bleiben. Wir haben ihn alle sehr gern.« Sie hielt inne und lächelte Alex stolz an. »Alle lieben Alex.«
Alex rieb sich hinter der Sonnenbrille mit zwei Fingern die Augen.
Sophie starrte auf den Teebeutel, der noch immer in ihrer Tasse schwamm. Der zwanzig Jahre alte Zettel aus dem Glückskeks, der der Anlass für diesen Besuch gewesen war, kam ihr wieder in den Sinn. Sie richtete den Blick auf Alex, dachte an das, was er hatte erdulden müssen: den Verlust der Mutter, an die er sich nicht einmal erinnern konnte, die Behinderung, der Tod des unheilbar kranken Vaters. Sie wurde erneut von Schuldgefühlen erfasst. Schließlich hatte sie zum Leid der Familie beigetragen.
Sophie stellte ihre Tasse ab und holte tief Luft. Ihr Blick schweifte zu Alex und Meredith. »Eigentlich bin ich aus einem ganz anderen Grund hergekommen«, begann sie. »Aber da ich schon einmal hier bin, möchte ich auch, dass Sie die Wahrheit erfahren. In gewisser Weise bin ich an dem Unfall schuld, bei dem Jacob vor zwanzig Jahren vier Finger seiner Hand verloren hat.« Sie berichtete kurz, wie sie den Vater am Steuer bei strömendem Regen abgelenkt hatte. Dann zog sie den Umschlag mit dem Zettel aus dem Glückskeks aus der Tasche und zeigte ihn Alex und Meredith. »Das ist der Sinnspruch aus dem Glückskeks. Ich habe ihn in der Unfallnacht fortgeworfen. Nachdem ich einer Polizistin – Ellen – meine Schuld gestanden hatte. Jacob muss ihn gefunden haben.« Sophie atmete tief durch, während Meredith den Spruch las. »Ich nehme an, dass er mein Gespräch mit Ellen mit angehört und diesen Zettel behalten hat. Sozusagen als ständige Erinnerung daran, wer die Verletzung an seiner Hand verschuldet hat. Jedenfalls hätte ich mich bei Jacob Barnes längst entschuldigen müssen. Aber erst heute, nachdem ich Sie beide kennengelernt habe und es zu spät dafür ist, bringe ich den Mut dazu auf. Und das … tut mir sehr leid.«
Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Meredith fand als Erste die Sprache wieder. »Vielen Dank, Miss Jones. Aber ich bin ganz sicher, dass Jacob Ihnen nie die Schuld für die Verletzung an seiner Hand gegeben hat.« Sie lächelte flüchtig. »Jacob war ein
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