Glut der Gefuehle - Roman
– ohne Rücksicht auf Margraves Drohungen. Und dann fand ihn die Concierge. Er lag in seinem Blut, die Kugel hatte seinen Schädel jedoch nur gestreift. Davon erfuhr ich erst drei Tage später. Da wurde er bereits in einem Pariser Hospital behandelt. Ich konnte ihn dort nicht einfach zurücklassen.«
Nein, das hätte nicht zu Indias Charakter gepasst, dachte
er. »Jetzt ergibt Lady Margraves Auftrag einen Sinn. Vielleicht hat er ihr ebenfalls mit Selbstmord gedroht – oder sogar einen weiteren Versuch unternommen.«
»Das habe ich mir auch überlegt.«
»Also wurdest du seine Beschützerin.«
»Sozusagen.«
»India, der Mann ist verrückt!«
»Offensichtlich.«
Ihre Gelassenheit überraschte ihn. Doch dann sagte er sich, dass sie schon seit langer Zeit mit der Wahrheit lebte. »Hast du es immer gewusst?«
»Dass er nicht ganz richtig im Kopf ist?« South nickte. »Nein, anfangs nicht. Da war ich ein Kind. Ich spürte damals sein besonderes Interesse an mir, das mir nicht schmeichelte, sondern eher Angst einjagte. Was dahinter steckte, erkannte ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht.« Freudlos lachte sie. »Nicht einmal jetzt weiß ich, ob ich es verstehe. Bereits damals malte er mich, und ich fand die Bilder grauenvoll. Nur meinen Eltern zuliebe besuchte ich Merrimont, weil sie sich so geehrt fühlten, wenn ich eingeladen wurde. Deshalb verschwieg ich ihnen, wie sehr ich diese Besuche verabscheute, wie übel mir wurde, wann immer mich die Kutsche der Countess abholte. Da sich die Kinder nie beschwerten, hätte mir niemand geglaubt. Und dass Margrave die anderen beim Versteckenspielen absichtlich nicht aufspürte, wusste ich nicht. Ebenso wenig, dass sie sich niemals entblößen mussten, um ihre Freilassung zu erwirken.«
Bestürzt beugte sich South vor und schien einen Fluch zu unterdrücken. Doch sie las kein Mitleid in seinen Augen, und dafür war sie dankbar. Sein Mitgefühl hätte sie von ihrem Entschluss abgebracht, alles zu erzählen. Und sie wollte mit aller Macht ihre Tapferkeit beweisen!
»Was die Gemälde betrifft|...«, fuhr sie fort und staunte über den ruhigen Klang ihrer eigenen Stimme. »Wenn sie mich auch anwiderten – in künstlerischer Hinsicht waren sie brillant. Wie du bereits weißt, musste ich ihm unbekleidet Modell stehen. Ich tat es nicht immer freiwillig. Aber er besaß Opiate, die er mir skrupellos aufzwang. Welche Gefahr mir durch diese Drogen drohte, ahnte ich. Und so erfülltet ich seine Wünsche lieber widerstandslos.«
Jetzt hielt sich South nicht mehr zurück und stieß eine wutentbrannte Verwünschung hervor, ohne zu merken, dass er India mit seiner Wortwahl schockierte.
Es dauerte eine Weile, bis sie weitersprach. »In all den Jahren haben sich nicht allzu viele Bilder angesammelt. Margrave malt nur, wenn er in der richtigen Stimmung ist. Manchmal rührt er monatelang keinen Pinsel an.«
»Erzähl mir von den Gemälden, India.«
Gepeinigt rang sie nach Atem. »Manchmal fesselte er mich. Auch mit Handschellen. Und einmal malte er mich festgenagelt an einem Kreuz, wie Jesus Christus|... Nein, schau nicht weg! Damit hilfst du mir nicht.«
Schweigend nickte er und wandte sich wieder zu ihr. Auf ihren Handflächen oder an den Handgelenken hatte er keine Narben entdeckt. Also orientierte sich Margrave nicht an der Realität, sondern malte, was ihm sein krankes Gehirn vorgaukelte. Was musste India empfunden haben, wenn sie ihr Ebenbild sah – ans Kreuz genagelt und in Handschellen?
»Oft malt er mich mit Peitschenstriemen am Rücken. Oder mein Haar geht in Flammen auf. Mein Körper gleicht einem Spalier für Kletterrosen. Deutlich sichtbar bohren sich Dornen in meine Haut, aus der mein Blut wie ein Tränenstrom quillt. Oder er überschüttet mich mit Juwelen, wirft Männer zu meinen Füßen, die mich anbeten
oder verfluchen und dann über mich herfallen. Beim Anblick dieser Gemälde riecht man die Wollust, spürt das Grauen, weil sie so schrecklich lebensecht wirken. Nichts gibt es, was mir in Margraves Werken nicht angetan wird.« Sekundenlang schloss sie die Augen. »Heute Abend habe ich dir erklärt, ich besäße nur Kenntnisse, keine Erfahrungen. Jetzt weißt du, warum.«
Im Feuerschein sah sie sein aschfahles Gesicht. Er wollte sprechen, doch sie hob eine Hand und brachte ihn zum Schweigen.
»Da gibt es ein Gemälde, das ich dir gern zeigen würde«, fuhr sie hastig fort, bevor sie den Mut verlor. Sie schlug die Decke zurück, stieg aus dem Bett und ging zu ihm.
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