Glut der Versuchung
dahin möchte ich einfach nur ein bisschen in Ruhe hier sitzen.«
Nachdem ihre Schwester und ihre Freundin fort waren, sah Roslyn wieder zu Arabella und Marcus. Sie freute sich ungemein für die beiden, empfand aber auch ein klein wenig Neid auf ihr Glück.
Nicht dass sie ihr Leben nicht liebte, wie es gegenwärtig war. Selbst vor Marcus' großzügiger Verfügung hatte ihr Einkommen an der Akademie ihr eine angemessene finanzielle Freiheit erlaubt. Und junge Damen auf ihr Leben in der Glitzerwelt der gehobenen Kreise vorzubereiten, war eine äußerst befriedigende Arbeit. Dennoch hatte sie das Gefühl, ihr fehlte etwas Wesentliches im Leben. Ihre Schwestern waren ihr überaus teuer, konnten indes nicht ihre Sehnsucht nach Liebe stillen ... nach einem Ehemann und eigenen Kindern.
Nun, da Arabella ihr Glück in der Ehe gefunden hatte, stand Roslyns Entschluss umso fester, dasselbe für sich anzustreben. Sie wollte auch für sich die wahre Liebe finden.
Und sie hoffte, diesen Traum mit Rayne Kenyon, dem Earl of Haviland, zu verwirklichen. Obwohl Lord Haviland als das schwarze Schaf der Familie galt, hatte er im letzten Jahr überraschend Titel und Vermögen geerbt, wodurch er zu einem äußerst begehrten Junggesellen avancierte. Dem tat seine nonkonformistische Haltung keinen Abbruch.
Mit seiner rebellischen Art war er Lily eigentlich näher als Roslyn, das war ihr klar, und auch rein äußerlich unterschied er sich sehr von ihr. Er war groß, dunkelhaarig und hatte eine eher rauhe Ausstrahlung. Seine kräftige und maskuline Statur flößte anderen sofort Respekt ein. Trotzdem fühlte sich Roslyn von seinem verwegenen Charme angezogen, ebenso wie von seiner Direktheit und seinem bissigen Humor.
Da er die Frivolität und Oberflächlichkeit der feinen Kreise ablehnte, hatte Haviland sich nie die Mühe gemacht, die gesellschaftlichen Fertigkeiten zu erlernen, die von einem Earl erwartet wurden. Um seiner Familie willen hatte er jedoch angefangen, sich in die Gesellschaft einzufügen.
Und seine Hochachtung für die Familie war es, was Roslyn am meisten beeindruckte. Kürzlich hatte sie mitangesehen, mit wie viel Zuneigung und Freundlichkeit er seinem Neffen das Schwimmen beibrachte. Und seiner alten Großmutter bot er einige Zerstreuung, indem er mit ihr Ausflüge nach London unternahm. Solche Gesten waren es, die Roslyn an einem Mann schätzte und sich bei ihrem künftigen Gatten wünschte.
Außerdem war Haviland derzeit auf Brautschau, wenn auch vor allem auf Drängen seiner Großmutter.
Roslyns Blick wanderte durch den Ballsaal, unbewusst auf der Suche nach Haviland. Unter den Tanzenden konnte sie ihn nicht entdecken. Vielleicht sollte sie ihn suchen gehen
In dem Moment bemerkte sie Winifred, die mit dem Duke of Arden im Schlepptau auf sie zukam. Sogleich setzte ihr Herz kurzfristig aus, kaum dass sie ihn sah. Dann presste sie verärgert die Lippen zusammen. Dank Lilys Warnung wusste sie genau, was Winifred vorhatte. Und leider konnte sie nicht fliehen.
Widerwillig stand Roslyn auf und wappnete sich für die Attacke ihrer Ladyschaft.
Winifred war groß, rotgesichtig und hatte eine laute Stimme, der man bis heute die niedere Herkunft anhörte. Zugleich aber war Winifred eine gute Seele und ausgesprochen warmherzig. Bereits seit vier Jahren, als die Loring-Schwestern nach Danvers Hall in die Obhut ihres Stiefonkels kamen, erwies Winifred sich ihnen als wahre Freundin und Förderin. In dieser Zeit hatte sie ihnen die Mutter ersetzt.
Winifred war seit fünf Jahren verwitwet. Der Verlust ihres Ehemannes hatte ihr das Herz gebrochen, was umso erstaunlicher war, als ihre Ehe seinerzeit arrangiert wurde. Ihr Vater, ein wohlhabender Industrieller, hatte mit seinen Fabriken und Minen ein Vermögen gemacht und der einzigen Tochter einen verarmten Baronet gekauft, um sie in den Adelsstand zu erheben.
Siebzehn Jahre später starb Sir Rupert Freemantle vollkommen unerwartet an Herzversagen, und Winifred trauerte immer noch um ihn. Sie war zwar nach der neuesten Mode gekleidet, trug jedoch mit ihrem lavendelfarbenen Crêpe die Farbe der Halbtrauer. Außerdem hatte sie meist eine versilberte Brosche an ihrer großen Brust, in der sich ein Portrait von Sir Rupert befand. So weit bekannt war, hatte Winifred nicht die Absicht, sich wieder zu verheiraten, obwohl sie nicht älter als vierzig sein konnte.
Wie so oft, fingerte sie gedankenverloren an ihrer Brosche, als sie Roslyn erreichte. »Da bist du ja, meine Liebe! «, rief
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