Glutopfer. Thriller
er wie sie ein Nachtmensch ist, trifft sie ihn am Computer an, wo er mit einem seiner Studenten über dessen Seminararbeit chattet.
»Und wie weit war ich?«
Er sitzt an dem kleinen Holztisch mit Monitor, Maus und Tastatur, sie steht hinter ihm herum.
»Fast hattest du mich«, sagt er. »Jetzt musst du natürlich von vorn anfangen. Ich bin in einer Minute hier fertig, dann können wir weitermachen.«
Er tippt einige Zeilen ein, und als er sich nach mehreren Mausklicks zu ihr umdreht, stößt er mit dem Fuß gegen das Standgerät unter dem Tisch.
»Wie viele Studenten hast du?«
»Zwei Kurse mit jeweils ungefähr zwanzig.«
»Alles online?«
Er nickt.
»Du hast sie nie gesehen?«
Er schüttelt den Kopf.
»Fehlt dir der Unterrichtsraum nicht?«
»Manchmal.«
»Warum hast du so früh mit dem Unterrichten aufgehört und bist hierher ans Ende der Welt gezogen?«
Durch Tweeta hat sie jede Menge Informationen über ihn. Wenn er lügt, wird sie es merken.
»Ich habe gern unterrichtet, aber der Ruf der Pyromanie war einfach zu stark.«
Sie lacht.
»Im Ernst«, sagt sie.
»Ich bin in den Wald gezogen, weil mir daran liegt, bewusst zu leben, es nur mit den wesentlichen Tatsachen des Daseins zu tun zu haben. Ich will sehen, ob ich nicht lernen kann, was es zu lernen gibt, um nicht, wenn es ans Sterben geht, die Entdeckung machen zu müssen, nicht gelebt zu haben. Ich will nicht zu den Menschen gehören, die ihr Schicksal in stiller Verzweiflung hinbringen und ihr Lied noch in sich haben, wenn sie ins Grab sinken.«
Sie merkt, dass das ein Zitat war, kennt es irgendwoher, kann es aber nicht einordnen.
»Woraus ist das?«
»Aus
Walden
. Es sind Thoreaus Worte, aber ich meine sie ernst.«
Sie nickt.
»Deswegen bist du also hier? Raus aus dem Hamsterrad.«
Er nickt.
»Und mit Graham Russell und Holly Bailey hat es nichts zu tun?«
Obwohl er es zu verbergen versucht, ist offensichtlich, dass sich etwas in ihm verändert. Sie hat die Stelle gefunden und seine Rüstung durchbohrt, die aus Leugnen und Abwehr besteht.
Er braucht einen Moment, um sich zu sammeln, nickt dann aber.
»Doch, auf jeden Fall. Musst du noch was wissen?«
Sie beschließt, das Thema vorläufig ruhen zu lassen. Er ist zu verletzt und verschließt sich wahrscheinlich weiteren Fragen, also führt es zu nichts. Es wäre einfach nur grausam, ihn weiter wegen seines besten Freundes und seiner Freundin unter Druck zu setzen.
»Bis jetzt bist du der einzige Mensch, der mit den Morden in Verbindung steht. Irgendeine Ahnung, warum?«
Er schüttelt den Kopf.
»Nein. Willst du dich nicht setzen?«
»Ich muss gehen. Hast du Feinde?«
Wieder schüttelt er den Kopf.
»Vielleicht ein Student, der nicht zufrieden mit seiner Note ist. Ist jemand auf dich fixiert oder von dir besessen?«
»Von mir?«, fragt er und lacht. »Seit wir den Fanclub dichtgemacht haben, habe ich damit keine Probleme mehr.«
Sie lacht ebenfalls.
»Und jemand aus einem Fall, bei dem du als Berater tätig warst?«
»Das waren nur ein paar, und soviel ich weiß, sind die entweder tot oder im Gefängnis.«
»Dann glaubst du also, dass es ein Zufall ist?«
»Dass ich zuerst über die eine Leiche falle und die nächste dann in einem abgelegenen Feld auf einem tausend Morgen großen Stück Land versteckt ist, das ganz nebenbei meiner Familie gehört? Ja, ich glaube, das ist ein Zufall. Wenn es noch mal passiert, bin ich vielleicht bereit, meine Meinung zu revidieren, aber …«
»Das Land gehört eigentlich nicht deiner Familie, oder?«, fragt sie.
»Was?«
»Es gibt nur noch dich, stimmt’s?«
Er nickt.
»Ein Mensch ist nicht gerade eine Familie, oder?«
Sie kommt sich überaus grausam vor, weiß, dass sie ihn verletzt, ist sich bewusst, dass es teils persönliche Neugier ist, und fragt sich, wie er reagieren wird.
»Ich meinte damit, dass es schon eine Weile in der Hand der Familie ist.«
»Du hast keine Geschwister?«
Er schüttelt den Kopf.
»Eltern?«
»Tot.«
»Auf welche Weise?«
Sein Gesicht hellt sich auf.
»Jetzt weiß ich, worauf du hinauswillst«, sagt er. »Du bist wirklich eine –«
»Auf welche Weise hast du dieses Haus und das Geld geerbt, von dem du lebst?«, fragt sie. »Auf welche Weise sind deine Eltern gestorben, Daniel?«
»Du weißt es doch«, sagt er. »Bei einem Brand. Sie sind bei einem Brand ums Leben gekommen.«
Sam ist gegangen.
Daniel allein.
Er ist wütend auf sie, fühlt sich gleichermaßen zu ihr hingezogen und wundert
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