Glutopfer. Thriller
ich weiß nicht recht, ob das stimmt. Ich würde eher sagen, es ist eine Untergruppe der Zwangsstörungen.«
Sam nickt, ist aber nicht sicher, ob sie genau versteht.
»Die meisten Experten sagen, dass Jugendliche viel öfter Feuer legen als Erwachsene, aber ich glaube, es gibt unter Erwachsenen viel mehr Fälle von Pyromanie oder Brandstiftung oder Zündelei, als wir wissen. Forschungen haben ergeben, dass wiederholtes Feuerlegen weniger eine Störung der Impulskontrolle als vielmehr eine Manifestation von Psychoinfantilismus ist, der sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzt, wenn Drogen- und Alkoholkonsum hinzukommt. So ist es jedenfalls im Fall von Pyromanie bei Erwachsenen, da ist die Komorbiditätsrate hoch.«
»Die was?«
»Es sind weitere Störungen vorhanden – Zwangsstörungen, Ängste, affektive Störungen und natürlich der Missbrauch von Drogen und Alkohol. Freud sagte, dass so was wie das Feuerlegen für die Regression in das primitive Verlangen steht, Macht über die Natur zu haben.«
»Wie diagnostizieren Sie diese Erkrankung?«
»Das DSM führt sechs Kriterien auf, die erfüllt sein müssen. Der Betroffene muss gewollt und absichtsvoll sowie bei mehr als einer Gelegenheit Feuer legen, er erlebt vor der Handlung Spannung oder affektive Erregung, Feuer bewirkt bei ihm Faszination und Anziehung, er erlebt Entspannung, Vergnügen und Befriedigung beim Feuerlegen, er ist nicht anderweitig motiviert – zum Beispiel finanziell, politisch, durch Rache, und das Feuerlegen kann nicht besser durch eine Antisoziale Persönlichkeitsstörung oder andere Störung erklärt werden.«
»Ich glaube nicht, dass mein UT Pyromane ist.«
Lisa lächelt und nickt.
»Ich glaube, der Phönix ist auch keiner.«
Über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg beherrschte Ian Chabon, der als »der Phönix« bekannte zwanghafte Mörder, die Gegend von Tampa mit flammendem Terror und wurde schließlich wegen Mordes an mehr als zwanzig jungen Frauen verurteilt – niemand weiß, wie viele es wirklich waren.
Chabon sperrte seine Opfer an unterschiedlichen Orten ein und steckte ihr Gefängnis dann an. Er schloss Schülerinnen in ihren Wohnheimzimmern ein, alleinstehende Frauen in ihren Apartments und Häusern, Teenager in ihren Autos, Lieferantinnen in ihren Lieferwagen, Lehrerinnen in ihren Klassenräumen – und dann entzündete er das Feuer und sah zu, wie sie sich wanden, während Flammen die Welt um sie herum verzehrten und langsam immer weiter zur der Stelle vorrückten, wo sie durch Fesseln, Handschellen oder Klebeband festgehalten wurden.
»Deswegen arbeite ich mit ihm, studiere ihn«, sagt Lisa. »Er ist eine Mischform – eine Kreuzung zwischen einem Pyromanen und einem zwanghaften Mörder. Er liebt Feuer, es erregt ihn, aber er steckt nur etwas an, wenn sich jemand darin aufhält.«
»Meiner setzt noch eins drauf«, sagt Sam. »Ihm geht es nur darum, seine Opfer brennen zu sehen.«
»Mein Onkel hat mir immer erzählt, dass ich bei ihm war, in der Nacht, als unser Haus abbrannte und meine Eltern starben«, sagt Daniel. »Und das leuchtet mir auch ein – ich meine, wenn ich in diesem Haus gewesen wäre, wie sollte ich dann rausgekommen sein?«
Während Ben, Joel und Esther mit diversen Vorbereitungen für den nächsten Teil des Pessach-Projekts beschäftigt sind, haben sich Brian und Daniel aus dem Schneideraum zurückgezogen und sitzen nun auf Stühlen im kleinen, schalldichten Bühnenraum.
»Hast du versucht, mit ihm zu reden?«, fragt Brian.
»Er ist vor ein paar Jahren gestorben, und meine Tante hat Alzheimer.«
Brian nickt.
Weil die großen Arbeitslampen ausgeschaltet sind, ist es dämmrig im Studio, Hintergrundprospekte saugen das wenige Licht im Raum auf, und die akustische Isolierung absorbiert jedes Geräusch. Das einfache Set besteht nur aus zwei Stühlen vor einer großen grünen Leinwand, denn für das Pessach-Projekt wird vieles in der Nachbearbeitung erledigt.
»Warum praktizierst du nicht mehr privat?«
»Zu strukturiert«, sagt Brian. »Ich glaube, in jedem Künstler steckt etwas von einem Anarchisten. Ich will das Menschliche erforschen – unseren Geist und unsere Motive –, aber im archetypischen Sinn, durch Film, und nicht, indem ich ganztägig den Patienten zuhöre.«
»So, wie du es gerade tust.«
»Ach was. Ich rede gern mit dir. Ich mag dich. Ich kenne dich. Ich finde dich interessant. Es ist ganz anders als mit Fremden, und außerdem habe ich gar nicht gesagt, dass es mir nicht
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