Glutroter Mond
in Neals Schultergelenk laut kracht. Er schreit und wirft sich zurück auf die Sitzbank.
»Neal!« Ich fühle mich hilflos, schlage die Hände vor mein Gesicht und starre meinen besten Freund an, der sich an die Schulter fasst. Ich würde ihm gerne helfen, weiß aber nicht, wie. Unterdessen hat Cade die Fahrt fortgesetzt, doch ich habe keinen Blick mehr für all die Wunder hinter den Autofenstern. Ich zittere am ganzen Körper. Wir sind entführt worden. Und es ist meine Schuld.
Kapitel sieben
Cade
Das Gestöhne auf dem Sitz hinter mir macht mich nervös. Kann der Kerl nicht einfach still sein? Er jammert, weil ich ihm den Arm verrenkt habe. Okay, vielleicht hätte ich nicht ganz so grob sein müssen, aber anders versteht er es anscheinend nicht. Jetzt kann ich zumindest sicher sein, dass er mich nicht noch ein weiteres Mal von hinten anfällt. Seine kleine Freundin ist erstaunlich ruhig. Sie streicht ihm ständig über den Kopf. Widerlich. Aber ich sollte mich nicht beklagen. Ich habe schon mit weitaus widerspenstigeren Menschen zu tun gehabt. Ein Wunder, dass sie überhaupt freiwillig in meinen SUV gestiegen sind. Es war beinahe zu einfach. Das Mädel ist ziemlich naiv, wenn sie mich tatsächlich für einen V23er gehalten hat. Andererseits ... Ich denke nicht, dass sie je in ihrem Leben etwas anderes kennengelernt hat als die dummen Marionettenmenschen aus Manhattan und die Diktatoren aus der Zentrale in Brooklyn. Man kann ihr keinen Vorwurf machen. Wenn ich ein Gewissen hätte, würde ich mich jetzt bestimmt schlecht fühlen, weil ich die beiden an der Nase herumgeführt habe. Doch glücklicherweise meint es das Schicksal gut mit mir. Ich kenne weder Mitleid noch Bedauern.
Ich biege auf den Highway 80 ein und gebe Gas. Wie spät ist es? Ein Blick auf die Uhr im Armaturenbrett sagt mir, dass ich spät dran bin. Gleichzeitig fällt mir die Tankanzeige auf. Die rote Lampe leuchtet schon. Verdammt, weshalb muss meine Sippe noch mit der Technik von vorgestern Vorlieb nehmen? Die V23er sind längst auf Solar- oder Kernenergie umgestiegen. Seit einem Jahrhundert schon nimmt die Zahl der Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren ab, und seit dem großen Krieg vergammeln die meisten davon am Straßenrand als ausgebrannte Wracks. Tankstellen sucht man vergebens, ha! Die Zeiten sind vorbei. Zwar sind die Highways seit der fast vollständigen Vernichtung der Menschheit immer erfrischend leer, aber das nützt einem wenig, wenn man keinen Kraftstoff auftreibt. Es gibt immer noch Reste an Benzin auf der Welt, aber es geht zur Neige und wird immer teurer. Alte Tanklaster oder die letzten Pfützen der leer stehenden Tankstellen und Raffinerien aus der alten Welt werden gerne von Menschen mit krimineller Energie angezapft und zu Wucherpreisen weiterverkauft. Und ein solches Geschäft beabsichtige ich heute noch abzuwickeln. Nun gut, ich habe die Drogen für den Tausch gegen Benzin im
Cave
leider nicht bekommen. Aber das sollte kein allzu großes Problem darstellen, es wird eben nur etwas unangenehmer für mich werden.
Ich bin so sehr in meine Gedanken versunken, dass ich beinahe an meinem vorläufigen Ziel vorbei gefahren wäre. Ich reiße das Lenkrad im letzen Moment noch herum. Das Weib auf der Rückbank schreit einmal kurz auf, weil es sie gegen die Autotür schleudert. Pech für sie. Die Gurte in dem alten SUV sind längst abgerissen, und selbst, wenn sie es nicht wären, hätte ich sie sicherlich nicht darauf hingewiesen, dass man sich anschnallen kann.
Der Parkplatz vor dem Motel
Black Night Inn
ist erwartungsgemäß leer. Natürlich ist er das. Vor mehr als fünfzig Jahren wurde hier das letzte Mal ein Zimmer vermietet. Es ist ein flaches Bungalow mit hässlichen grünen Türen und Fensterläden in derselben Farbe. An vielen Stellen ist sie jedoch abgeblättert. Neun Türen reihen sich auf der Stirnseite nebeneinander, jedes Zimmer verfügt über einen eigenen Zugang. Drei der Türen fehlen jedoch bereits, zwei hängen schief in den Angeln. Die meisten Fensterscheiben sind eingeschlagen und die wenigen, die noch intakt sind, sind staubblind. Ich benutze das
Black Night Inn
gerne als Treffpunkt mit meinen Geschäftspartnern. Außerdem kommt mir diesmal zugute, dass eines der verdreckten Zimmer noch über einen Schlüssel verfügt, mit dem man sowohl die Tür als auch das Fenster verschließen kann. Wie es der Zufall so will, gehört der Schlüssel zu einem von zwei noch einigermaßen intakten Gästezimmern, wenn man intakt
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