Gnadenfrist
beibringen will, wie es auf der Straße zugeht.
»Der Müller und Klein-Ikarus können nicht allzuviel auf dem Kasten haben«, sagte Helena. »Sie waren beängstigend, aber wenn sie sich nach Rom zurückgeschlichen haben, um das Heft in die Hand zu nehmen, sollten sie sich unauffällig verhalten, statt Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Flaccida kam mir gewieft genug vor, das zu erkennen.«
»Genau! Also sind wir wieder bei Lalage als der neuen intelligenten Königin der Unterwelt!« Ich lächelte ihr zu.
Oder bei jemandem, an den wir bisher noch nicht gedacht hatten.
Scythax kam sehr bald. Demnach mußte es Porcius unverletzt bis zum Wachlokal geschafft haben. Ich hatte ihm empfohlen, die Augen offen zu halten, sowie er die Straße betrat. Er mußte seine Geschichte mit einiger Dringlichkeit erzählt haben, denn der Arzt war im Nu bei uns. Porcius begleitete ihn, um ihm das richtige Haus zu zeigen. Petro hatte zwei Männer von der Patrouille als Wachen mitgeschickt. Er hatte die Gefahr erkannt, in der ich war.
Scythax war ein sehr brüsker orientalischer Freigelassener, der offenbar den Verdacht hatte, hier würde nur simuliert. Das war verständlich. Die Fußpatrouillen der Vigiles versuchten dauernd, sich krank zu melden; bei ihrer gefährlichen Arbeit kein Wunder. Scythax erwartete, daß man bei seinem Anblick sofort Aua schrie; für so was wie »Kopfschmerzen«, »Rückenprobleme« und »alte Knieverletzungen« brachte er wenig Geduld auf. Das kannte er bis zum Erbrechen. Wollte man Scythax’ Mitleid erregen, mußte man schon eine offene Wunde oder einen Bruch vorweisen: etwas, das er sehen oder in das er hineinstechen konnte.
Er mußte allerdings zugeben, daß meine Schulter und mein Arm tatsächlich ramponiert waren. Erfreut teilte er mir mit, das Schultergelenk sei nur ausgerenkt. Seine Behandlung würde darin bestehen, es an seinen angestammten Platz zurückzumanipulieren.
Dann ging er ans Werk. »Manipulieren« hatte sich eigentlich recht freundlich angehört. Doch das Manöver erforderte soviel brutale Gewalt, daß sogar der Müller stolz gewesen wäre. Ich hätte es ahnen sollen, als Scythax Helena und Mama anwies, meine Füße festzuhalten, damit ich nicht treten konnte, während Porcius sich mit seinem ganzen Gewicht über meine Brust werfen sollte. Scythax griff sofort zu, stützte sich mit dem Fuß an der Wand ab, lehnte sich zurück und zog.
Es funktionierte. Es tat weh. Es tat scheußlich weh. Selbst Mama mußte sich setzen und sich Luft zufächeln, und Helena brach in Tränen aus.
»Das kostet Sie nichts«, tröstete mich Scythax liebenswürdig.
Meine Mutter und meine Freundin machten Bemerkungen, die ihn zu überraschen schienen.
Zur Entspannung der aufgeheizten Atmosphäre (er hatte meine Schulter ja tatsächlich geheilt) brachte ich japsend hervor: »Haben Sie die Leiche gesehen, die heute morgen von der Patrouille gebracht wurde?«
»Nonnius Albius?«
»Sie kennen ihn?«
Scythax warf mir einen etwas schiefen Blick zu, während er seine Instrumente einpackte. »Ich halte mich auf dem laufenden über die Arbeit der Kohorte.«
»Und was meinen Sie?«
»Genau das gleiche wie Petronius Longus: Der Mann ist gefoltert worden, größtenteils während er noch lebte. Die meisten Wunden wären für sich genommen nicht tödlich gewesen. Jemand hat sie ihm beigebracht, um Schmerz zuzufügen – sieht nach einer Bestrafung aus. Das paßt zu seiner Position als Denunziant, der seinen Boss verraten hat.«
Und es deutete auf die gleiche Liste von Verdächtigen, die eventuell die Geschäfte übernommen haben mochten: die Balbinus-Frauen, die anderen Mitglieder der Organisation und Lalage.
»Er war sehr krank«, sagte ich, als der Doktor schon an der Tür stand. »Konnten Sie erkennen, was ihm gefehlt hat?«
Scythax reagierte seltsam. Ein Ausdruck, der beinahe wie Erheiterung wirkte, huschte über sein Gesicht. Dann sagte er: »Nicht viel.«
»Aber angeblich war er doch todkrank!« rief Helena erstaunt. »Das war der einzige Grund, warum Petronius ihn überreden konnte, vor Gericht auszusagen.«
»Wirklich?« meinte der Freigelassene trocken. »Sein Arzt muß sich geirrt haben.«
»Sein Arzt heißt Alexander.« Ich wurde bereits mißtrauisch. »Ich habe ihn bei Nonnius getroffen. Er kam mir so kompetent vor wie jeder andere Äskulapjünger.«
»Oh, Alexander ist ein hervorragender Arzt«, versicherte mir Scythax ernst.
»Kennen Sie ihn, Scythax?«
Ich war auf Rivalität oder
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