Gnadenlose Gedanken (German Edition)
auf mich zu bremsen. Das genau war der Moment, den ich benötigte, um mir einen Vorteil zu verschaffen. Er war eine Sekunde lang außerstande, mir zu Leibe zu rücken. Und in dieser Sekunde schrie ich mir meine Seele aus dem selbigen Leib. Ich brüllte, was meine Schwimmerlunge hergab, und das waren einige Dezibel. Ich schrie lauthals, dass ein Verrückter versuchte, einen wehrlosen Rollstuhlfahrer zu belästigen. Das hatte zur Folge, dass augenblicklich einige junge Türken sich aufmachten, mir zu Hilfe zu eilen. Sie kannten keine Angst. Sie wussten nur zu gut, was ein Außenseiter alles über sich ergehen lassen musste. Nicht, dass der Koloss sie nicht hätte vernichten können Es waren schließlich nicht mehr als nur zehn Leute. Zwar sichtlich austrainiert, aber eben nur zehn. Damit war der Koloss eindeutig in der Überzahl. Doch er traute sich plötzlich nicht mehr, in aller Öffentlichkeit seine „gute“ Tat zu vollbringen. Erst jetzt schien er bemerkt zu haben, dass er nicht alleine mit mir war. Und scheinbar war er der Meinung, dass dies eine Geschichte war, die nur ihn, mich und Gott etwas anging. So trat er kurzerhand und völlig unspektakulär den Rückzug an. Er stand schnell wieder auf und lief davon. Es sollte einige Zeit vergehen, bis ich ihn wieder von vorne sehen würde.
8
Manfred war so sehr mit den Reisevorbereitungen beschäftigt, dass er überhaupt nicht bemerkte, wie aufgeregt ich war. Das war mir auch ganz Recht so, und ich fragte ihn so beiläufig wie möglich, wann wir denn starten könnten.
„Im Prinzip sofort“, antwortete er.
„Ich muss nur noch die Toilettenartikel einpacken, dann könnte es losgehen. Warum fragst du denn? Hat dich das Reisefieber gepackt, oder hast du Angst, deine Eltern könnten den Scheck platzen lassen?“
„Ich freue mich einfach nur auf Irland. Ich habe damals nicht wirklich viel gesehen, von dem Land. Du weißt ja, wie das ist auf Klassenfahrten. Man versucht, so viel Bier wie möglich zu saufen. Und wer keinen Alkohol mag, der baggert die ganze Zeit die Klassenschönheit an. Da bleibt dann meistens wenig Zeit, um das Land kennenzulernen. Aber die Leute dort, die waren echt klasse. Die Iren sind einfache, unkomplizierte Menschen. Sehr sympathisch.“
Ich sah ihn prüfend an. Er schien nichts bemerkt zu haben von meiner Angst, von meiner Panik. Ich hatte schon beinahe im Leichenschauhaus gelegen, doch jetzt war ich wieder völlig ruhig. Manchmal können Menschen unerklärlich cool sein. Hätte ein wildes Tier das erlebt, was ich noch vor einer halben Stunde durchgemacht hatte, es würde jetzt noch zitternd in seinem Bau sitzen, und sich aus Furcht das Fell bepissen.
„Ist der VW-Bulli startklar?“
Manfred Mitbewohner hatte sich tatsächlich überreden lassen, uns seinen Transporter zu leihen. Die einzige Bedingung, die er stellte, war, dass wir ihm ein Sixpack Guinness mitbringen mussten.
Der VW-Bulli war für unsere Zwecke ideal. Er bot genügend Platz für zwei Männer, ihr Gepäck und einen Rollstuhl. Notfalls könnten wir sogar in ihm schlafen. Einfach grandios!
Ich konnte es nicht mehr abwarten, loszufahren. Wer weiß? Vielleicht kannte der Koloss ja meine Adresse? Ich traute es ihm zu. Er war zweifellos sehr intelligent. Und er hätte mir sicher nur zu gerne einen nächtlichen Besuch abgestattet.
Ich hatte wenig Lust es herauszufinden.
„Ich habe eine tolle Idee, Manfred! Wenn wir in der nächsten Stunde aufbrechen, könnten wir noch heute Abend in Le Havre sein. Wir schippern nachts gemütlich mit der Fähre über den Kanal, und können schon morgen früh unsere erste Portion Porridge essen.“
Die Aussicht auf ein irisches Frühstück ließ ihm sichtbar das Wasser im Mund zusammenlaufen. Ich wusste halt, womit ich ihn locken konnte.
Innerhalb einer Stunde saßen wir in einem vollgetankten VW und versuchten uns im Singen von irischen Folksongs, was uns nur bedingt gelang.
Wir hatten unsere Handys zu Hause liegen lassen, wir wollten uns ein paar wirklich ruhige Wochen gönnen.
Den Koloss hatte ich bereits ganz nach hinten in meinem Gehirn verbannt.
Am frühen Abend erreichten wir Le Havre, und schifften uns sofort ein. Uns blieb noch etwas Zeit bis zur Abfahrt, also beschlossen wir, die Fähre zu erkunden. Natürlich sahen wir uns zuerst die Toiletten an, das war bei uns inzwischen Routine. Gab es irgendwelche Hindernisse, würden wir auf unüberwindbare Probleme stoßen? Doch wir hatten Glück. Es waren zwei behindertengerechte
Weitere Kostenlose Bücher