Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wagner
Vom Netzwerk:
hatte zwar auch einige Tote aus dem Wasser fischen müssen, aber warum sollte ausgerechnet Manfred einer von ihnen sein? Ich hatte meinen Optimismus wieder gefunden. Sicher würde ich es bald erfahren, denn am Horizont konnte ich endlich das Festland ausmachen. Ich konnte es kaum noch erwarten, wieder festen Boden unter meinen Füßen zu haben. Auch wenn sie nichts fühlen würden, (das hatten sie ja schon seit Monaten nicht mehr…), würden sie sich bestimmt an das Gefühl erinnern.
Ich
würde es auf jeden Fall!

    „Hi, wie geht es dir?“
    Veronika lächelte mich an. Auch sie war wieder aufgewacht, und sie sah noch schöner aus als in unserem Gummiboot. Beim Lächeln kräuselte sich ihre Nasenspitze etwas, das sah so süß aus, dass ich sie am liebsten sofort geküsst hätte. Das traute ich mich dann aber doch nicht. Meine alte Scheu und Unsicherheit hatten mich wieder eingefangen. Das hielt Veronika aber nicht davon ab, mich zu küssen. Wenn man das einen Kuss nennen konnte! Sie schob ihre Zunge so tief in meinen Mund, als ob sie dort etwas suchte, was sie vor langer Zeit verloren hatte. Sie suchte in jedem Winkel, scheinbar erfolglos, denn sie hörte nicht auf. Da ich nicht wollte, dass sie zu schnell aufgab, versuchte ich, ihre Zunge mit meiner einzufangen. Egal, wo ihre hinrutschte, meine folgte sogleich. Dieses Nachlaufen dauerte einige Minuten, und schien ihr schwer an die Kondition zu gehen. Denn sie begann immer schneller und heftiger zu atmen und manchmal musste sie sogar leise stöhnen. Mir erging es nicht viel anders, ich war wohl zu lange aus der Übung. Irgendwann konnten wir nicht anders, wir schnappten nach Luft wie zwei Ertrinkende…
    Sie sah mir in die Augen. Immer noch lächelte sie.
    In diesem Moment konnte ich nicht anders. Ich sagte ihr, dass ich sie liebte. Ich konnte nicht mehr an Manfreds Schicksal denken. Dachte nicht an den Koloss, nicht an meinen Rollstuhl. Ich wollte auch nichts von fremden Gedanken wissen. Oder von meinen eigenen. Ich wollte ihr nur in die Augen sehen, und ihr sagen, wie sehr ich sie liebte.

    „Ich weiß“, antwortete sie nur.
    Weiter sagte sie nichts, aber sie begab sich erneut auf die Suche.
    Nach einer ganzen Weile wurde unsere Suche dann von dem Kapitän unterbrochen. Mit einem verschwörerischen Grinsen teilte er uns mit, dass wir bald anlegen würden.
    Nur widerwillig lösten wir uns voneinander. Wieder hatte ich irgendwie das Gefühl, gar nicht gerettet werden zu wollen. Zumindest nicht ausgerechnet in diesem Moment. Aber manchmal konnte man sich sein Glück eben nicht aussuchen.
    Und meine Glückssträhne hielt an, denn als das Schiff anlegte, entdeckte ich am Ufer einen Mann, der sich an einem Rollstuhl festhielt. Kein Zweifel, für wen der bestimmt war. Der Kapitän machte scheinbar keine halben Sachen. Wenn er jemanden rettete, dann aber gründlich. Ich sah ihn fragend an, und er erklärte mir, dass er über Funk den französischen Helfern mitgeteilt hatte, dass er einen Behinderten an Bord hatte. Wie man sehen konnte, hatten sie darauf prompt reagiert. Ich sah den Kapitän einige Sekunden an, und bat ihn dann, sich zu mir herunterzubeugen. Er zog eine Augenbraue fragend hoch, kam meinem Wunsch aber nach. Ich konnte nicht anders, ich musste ihn umarmen. Er nahm meinen Dank stumm entgegen, und war mit Recht stolz auf seine Leistung. Es überraschte mich nicht mehr, dass er trotz seiner Jugend bereits Kapitän eines Polizeibootes war. Er hatte in den vergangenen Stunden mehr für mich getan, als meine Eltern in den zwanzig Jahren zuvor.

    Zwei seiner Männer trugen mich an Land, wo ich sofort von einem freundlichen Franzosen in Empfang genommen wurde. In der Nähe der Anlegestelle parkte ein Kleinbus, der mit einer Rampe ausgestattet war. Der Franzose schob mich hoch, sicherte den Rollstuhl mit ein paar Gurten und setzte sich auf den Fahrersitz. Ich drehte mich um, meine Augen suchten Veronika. Sie stand noch auf dem Schiff und wechselte einige Worte mit dem Kapitän. Dann stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen und drückte ihm tatsächlich einen Kuss auf seine Stirn! Eine kleine, heiße Nadel stach in meinen Magen. Das konnte sie doch nicht machen! Sie war doch meine kleine Veronika! Ich hasste mich für dieses Gefühl. Ich war doch tatsächlich eifersüchtig auf meinen neuen Freund, dabei tat sie doch nichts anderes, was ich eben auch getan hatte. Sie bedankte sich bei ihm, ohne große Worte zu machen. Wenigstens schien er diese Geste besser zu

Weitere Kostenlose Bücher