Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wagner
Vom Netzwerk:
verstehen als ich dazu in der Lage war. Er lächelte zurück und umarmte Veronika etwas unbeholfen. Sie löste sich vorsichtig von ihm, und tänzelte den Steg hinunter. Gott, sah sie schön aus!

    Sie stieg in den Bus ein, setzte sich neben den Franzosen, der stumm auf sie gewartet hatte, drehte sich zu mir um, und schenkte mir das himmlischste Lächeln des Universums. Ich konnte es zwar nicht fühlen, war mir aber sicher, dass ich in diesem Moment weiche Knie hatte.

    Die Fahrt nach Calais dauerte nur wenige Minuten, die wir mit Schweigen und Nachdenken verbrachten. Ich musste wieder an Manfred denken. Mir ging es so unsagbar gut, das erste Mal seit vielen Monaten war ich so richtig glücklich. Er hätte sich so sehr für mich gefreut! Hoffentlich hatte man ihn auch retten können. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen, dass er nicht mehr lebte. Er
musst
e überlebt haben!

    Ich konnte zwar nur ihren Hinterkopf sehen, doch ich wusste, dass Veronika Ähnliches von ihrer Freundin dachte. Susanne hieß sie, und sie kannten sich seit der Grundschule. Sie waren so richtig dicke Freundinnen, teilten alles miteinander. Die Vorstellung, ihr könnte etwas zugestoßen sein, machte Veronika spürbar krank.

    Mittlerweile hatten wir das Stadtzentrum erreicht, und der Fahrer gab uns zu verstehen, dass wir die Schule, in der die anderen Geretteten notdürftig untergebracht waren, bald erreicht hätten. Meine Hände wurden feucht, und die gespannte Erwartung glich der eines Kindes, das sich fragte, ob der Weihnachtsmann seinen Wunschzettel auch genau gelesen hatte, und ihm das richtige Spielzeug schenken würde. Veronika rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her.

    Der Kleinbus bog auf den Schulhof ein, wo uns einige Menschen erwarteten. Ich konnte Männer in Arztkitteln erkennen, und Frauen in Schwesterntrachten. Aber auch viele Menschen in Straßenkleidung und in Decken gehüllt, standen dort und versuchten, uns zu identifizieren. Sie vermissten ihre Angehörigen, hatten aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Sie starrten in das Innere des Fahrzeuges, ihre Augen waren wie eingefroren. Es war ein gespenstischer Anblick.

    Natürlich spürte ich ausgerechnet in diesem Augenblick das Stechen hinter meinem rechten Ohr! Es war zum Kotzen! Ich wollte es nicht. Nicht jetzt, nie mehr! Ich hatte wirklich genug mit meinen eigenen Gedanken zu tun, ich wollte nicht wissen, was die Menschen da draußen dachten.

    [Wieder nicht. Ich werde sie nie wiedersehen! Britta, es tut mir so leid! Warum rettet Gott diesen Krüppel und nicht dich? Warum sollte sein Leben mehr wert sein als deines? Gott ist so ungerecht!]

    Leider konnte ich nicht ausmachen, wer diese frommen Gedanken hatte, eigentlich traute ich es allen zu, die dort ausharrten. Wahrscheinlich hätte ich an ihrer Stelle nichts anderes gedacht. Der Mensch war nun mal ein Schwein. Das würde sich nie ändern. Aber es gab tatsächlich Schweine, die noch niederträchtiger waren als ihre Artgenossen. Es gab tatsächlich feine Unterschiede:

    [Ist er wirklich hinüber? Es wäre ja kaum zu glauben! Ich dachte immer, er würde ewig leben. Selbst die zwei Herzinfarkte hat er weggesteckt. Und jetzt soll er einfach ertrunken sein? Viel zu schön, um wahr zu sein! Dieses Arschloch soll auf dem Meeresgrund verrotten, wie das Wrack dieser verdammten Fähre! Von mir aus können ihn die Fische haben, wenn sie sich unbedingt ihre Mägen verderben wollen. Ich will ihn nicht wieder haben. Behaltet ihn! Bei Gott, bitte behaltet ihn!]

    Ich hatte in den vergangenen Monaten eine Menge Gedanken gelesen, und die wenigsten waren schön und positiv gewesen. Eigentlich hätten sie mich inzwischen kaltlassen müssen. Doch ich war wieder schockiert! Was musste ein Mensch getan haben, dass er so dermaßen gehasst wurde? Ehepaare, also ehemalige
Liebes
paare, wünschten einander den Tod. Kinder hassten ihre Eltern, Eltern ihre Kinder! Und wildfremde Menschen sprachen mir das Recht zu leben ab, nur weil ich behindert war. Lag das den Deutschen im Blut, oder waren alle Nationen so beschränkt und krank? Eigentlich wollte ich darauf keine Antwort haben. Ich wollte nicht mehr wissen, was andere Menschen dachten. Meine Neugier war vollkommen befriedigt. Ich ekelte mich vor meiner „Gabe“. Ich hatte mich anfangs noch so überlegen, so stark gefühlt. Wie Clark Kent, der Supermann. Er war den Menschen weit überlegen, war der stärkste Mann der Erde. Er konnte fliegen, und noch so manches mehr. Ich hatte mich wie

Weitere Kostenlose Bücher