Gnosis
Experimente an Affen die Wissenschaft nicht mehr weiterbringen.» Zinser sah ihm tief in die Augen. «Würde es Ihnen nicht helfen, wenn Sie richtige Testpersonen hätten?»
«Leichen? Nein, im Augenblick brauche ich lebendes Gewebe.»
«Ich spreche nicht von Leichen.»
«Ich führe nach wie vor Langzeittests durch, und dafür brauche ich Proben.» Er deutete auf einen Kühlschrank mit einer Glastür, in dem sich etwa fünfzig Objektträger mit Hirngewebe befanden.
«Und?»
«Und …» Dietrich machte eine kurze Pause. «… ich bezweifle ernsthaft, dass Sie Freiwillige finden, die bereit wären, sich wochenlangen Beobachtungen zu unterziehen, gefolgt von ausgiebigen Hirnoperationen. Ganz zu schweigen von dem ganzen Papierkram für die FDA. Das allein würde Jahre dauern.»
«Vergessen Sie die FDA. Es ist ja nicht so, dass Sie hier Medikamente für die Öffentlichkeit entwickeln.»
«Ich könnte meine Zulassung verlieren.»
«Sie könnten im Gefängnis landen, wenn jemand wüsste, dass Sie im Besitz geheimer Unterlagen sind.»
Dietrich wurde weiß vor Schreck. «Was wollen Sie damit sagen?»
«Ich will damit nichts sagen – ich sage es. Ich möchte, dass Sie alles tun, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Wenn Sie also Abkürzungen nehmen müssen, dann nehmen Sie Abkürzungen. Und wenn Sie Richtlinien des Gesundheitsministeriums ignorieren müssen, tun Sie sich keinen Zwang an. Und wenn Sie Testpersonen brauchen, sagen Sie es mir, und ich kümmere mich darum.»
«Aber wie …?»
«Wie ist mein Problem, nicht Ihres.»
«Ich weiß nicht, ob es mir gefällt, wenn …»
«Lassen Sie mich ganz offen sein, Doktor. Es ist mir egal, was Ihnen gefällt. Sie sind der Arbeitnehmer, und ich bin der Arbeitgeber. Ein echter wissenschaftlicher Durchbruch ist nicht ohne Opfer zu erreichen.»
«Ich werde nicht mit Testpersonen arbeiten, die genötigt wurden. Es muss freiwillig geschehen.»
Zinser lächelte. «Selbstverständlich.»
«Okay», sagte Dietrich mehr zu sich selbst als zu der Frau, die vor ihm saß. «Okay.»
«Wie viele werden Sie brauchen?»
Dietrich antwortete, ohne zu zögern. «Sechs Männer zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig.»
«Ich werde die entsprechenden Vorbereitungen treffen.»
«Ich danke Ihnen», sagte Dietrich, da er nicht wusste, was er sonst sagen sollte.
«Nein», antwortete Zinser. «Ich danke Ihnen.»
Drei Wochen später trafen Dietrichs Probanden ein. Sie hatten Untergewicht und schlechte Zähne und waren offensichtlich obdachlos. Als Dietrich den ersten Mann untersuchte, fragte er ihn, wie viel man ihm für seine Teilnahme bezahlte.
«Zehntausend Dollar.»
«Wissen Sie, wie die Tests aussehen werden?»
«Nein, ist mir auch egal. Für zehn Riesen würde ich mein Gehirn spenden.» Der Mann sah Dietrich an und lächelte breit und zahnlos. Dietrich erwiderte das Lächeln nicht.
KAPITEL 23
Dietrich nahm eine Tablette, zerkaute sie zu bitterem Brei und spülte sie mit einem Schluck Cola Light herunter. Er behielt seine Sachen an, als er sich auf die Couch in der Ecke seines Labors legte und sich zudeckte. Er schlief schon lange nicht mehr in seiner Unterkunft. Da konnte er nicht abschalten.
Hier – zwischen seinen surrenden Apparaten und leuchtenden Monitoren – fühlte er sich sicher. Hier war er in der Nähe seines Schreibtischs, falls ihm ein Geistesblitz kam. Außerdem hatte er weder Frau noch Kinder. Er hatte nicht einmal ein Zuhause. Seine Wohnung hatte er gekündigt, als er den Vertrag mit der Organisation unterschrieben hatte.
Vorher war ihm nie bewusst gewesen, wie einsam er eigentlich war. Nachdem er nun jedoch so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt mehr hatte, war die Isolation offensichtlich. Entscheidend aber war, dass ihn seine Einsamkeit – nach dem ersten Schock – gar nicht weiter störte.
Im Grunde hatte es etwas Befreiendes an sich, von der Organisation «festgehalten» zu werden. Er musste kein schlechtes Gewissen haben, dass er im Grunde ständig arbeitete. Er musste nicht in seiner einsamen Wohnung sitzen, in der leeren Küche mit einem Kühlschrank voller Mikrowellengerichte. Er musste sich keine Gedanken darüber machen, dass er noch nie mit einer Frau geschlafen hatte, ohne sie dafür zu bezahlen.
Die Organisation ersparte ihm die Schuldgefühle und die Selbstverachtung. Er musste keine Entscheidungen treffen und konnte das tun, worin er Erfolg hatte: seine Arbeit. Er schloss die Augen. Das blutverschmierte Gesicht des
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