Go West - Reise duch die USA
entsprechende Frage.
»Nein, Washington ist anders als die meisten amerikanischen Städte«, erklärte unsere Freundin. »Es gibt kein typisches downtown mit hässlichen Hochhäusern, dafür viele Bäume und breite Straßen. Und jede Menge Sehenswürdigkeiten. Ist ja schließlich der Regierungssitz.«
»Genau wie in Berlin«, kam es von Gina.
»Ja, Trish hat mir eine Menge von Berlin erzählt. Und von euch …« Liz grinste.
»Du musst unbedingt einmal kommen«, sagte ich und gab ihr einen Schubs.
»Vielleicht komm ich nächstes Jahr mit Dan zusammen. Dann zeigt ihr uns alles, okay?«
Ich freute mich schon darauf, mich bei Liz revanchieren zu können. Dass sie uns einfach so mitgenommen hatte, war toll von ihr. Es hätte ja auch schiefgehen können, schließlich kannten wir uns kaum.
Als wir die Brücke überquert hatten, waren wir schon an der Rückseite des memorials , das für Abraham Lincoln errichtet worden war. Es sieht aus wie ein Tempel, in dem Gott Lincoln thront. Um zum Eingang zu gelangen, mussten wir es umrunden. Als wir die lang gestreckte mall vor uns sahen, blieben wir stehen und ließen den Anblick auf uns wirken. Rechts und links flankieren Bäume ein großes rechteckiges Wasserbecken, und am anderen Ende ragt der höchste Obelisk der Welt in den Himmel, das Washington Monument .
»Cool, oder?«, fragte Liz.
»Hm.« Mir kam ein Mann in den Sinn. Martin Luther King. Genau an dieser Stelle hatte er die wohl berühmteste Rede für Freiheit und Rechte der afroamerikanischen Bevölkerung gehalten. 1963 waren eine Viertelmillion Menschen in der Washington Mall versammelt gewesen und hatten ihm zugehört.
»I have a dream …«, murmelte Gina, die wohl den gleichen Gedanken hatte wie ich.
»Ja«, erwiderte Liz. »Du hast recht. Das war genau hier. Der ganze Park voller Menschen, die ohne Gewalt für ihre Rechte eintraten. Und irgendein Fanatiker hat ihn später ermordet.«
Ich drehte mich um und entdeckte Abraham Lincoln. Überlebensgroß in Stein gehauen schaut er auf einer Art Sessel sitzend gelassen und mit für die Ewigkeit festgehaltener Weisheit über die Washington Mall hinweg bis zum Obelisken. Die riesige marmorne Nadel soll an George Washington erinnern, den ersten Präsidenten der USA und einer der Gründerväter des Landes. Man hat also gleich zwei Monumente errichtet, und ich glaube, beide Staatsmänner haben sie auch verdient.
»Hat nicht Abraham Lincoln die Sklaverei abgeschafft?«, fragte Gina.
»Er hat es auf den Weg gebracht«, erwiderte Liz. »Das verbindet ihn mit Martin Luther King. Sie teilen das gleiche tragische Schicksal. Lincoln kämpfte gegen die unmenschliche Sklaverei und wurde dafür ermordet. Und King kämpfte gegen Rassismus und für die Gleichberechtigung, und auch er wurde dafür ermordet.«
»Und beide erlebten nicht mehr, was sie in Gang gebracht hatten«, sagte ich leise.
»Ja, aber die Menschen verdanken ihnen vieles. Sie stehen nicht nur in den Geschichtsbüchern, sondern bleiben auch im Gedächtnis.«
»Und warum hat man das Becken angelegt?« Gina blickte auf das Wasser, dessen Oberfläche den Obelisken spiegelte.
»Ich glaube, das ist symbolisch.« Liz machte eine Geste über das Becken. »Man nennt das reflecting pool . Das Becken wirft die Bilder der Denkmäler zurück und spiegelt sie. Wahrscheinlich soll es auch den Gedanken der Freiheit widerspiegeln und überall sichtbar machen.«
Wir betrachteten den guten alten Lincoln eingehend, und ich dachte bei mir, dass ich sein schmales Gesicht nie für das eines Präsidenten gehalten hätte, hätte ich nicht gewusst, dass er einer gewesen war. Aber die geistige, politische oder gesellschaftliche Leistung eines Menschen ist ihm oft nicht ins Gesicht geschrieben.
Liz klärte uns darüber auf, dass es entlang der mall viele memorials gab. So das Korean War Memorial , das World War II Memorial , das Vietnam Veterans Memorial und eines für die Frauen, die in Vietnam als Krankenschwestern gedient haben, das Vietnam Women’s Memorial . Es zeigt drei Frauen im Kampfanzug, die einen verwundeten Soldaten tragen.
Am Vietnam Memorial passierte mir etwas Unglaubliches. Langsam durchschritten wir dieses im Freien angelegte bedrückende Mahnmal. Man hat lange schwarze Marmorwände aufgestellt, auf denen die Namen der 58.209 amerikanischen Gefallenen eingraviert sind. Es ist für den menschlichen Geist schwer nachvollziehbar, was ein Krieg wirklich bedeutet. Wie viel Leid damit verbunden ist für die
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