Gößling, Andreas
Billa zerkratzte sich die Arme, zerschliss sich ihre Jeans, zerpeitschte sich das Gesicht mit stachligen Ästen, aber sie schaffte es, sich auf die Hügelkuppe hochzukämpfen.
Der halb vermoderte Knochenmann schlich immer noch drei Meter neben ihr her, mit rasselnder Brust, aus der die Rippen hervorsahen. Auch der Totenkopf mit der Menschenfresserfratze schwebte nach wie vor hinter ihr und in den Büschen stöhnten und seufzten auch hier oben auf der Hügelkuppe Unmengen verwunschener Mädchen.
Dass dort sechs riesengroße Golems im Kreis aufgereiht lagen, fiel Billa überhaupt nicht auf. Da oben auf dem Hügel war sowieso alles mit Schlingpflanzen und Dornengestrüpp überwuchert. Und von der ganzen Go lem-Geschichte wusste sie damals so gut wie gar nichts. Sina hatte ihr nur erzählt, dass die Hexen und die Rosenspiegler sich gegenseitig aus dem Wald verbannt hatten, nachdem die Logenbrüder versucht hatten, dort draußen am Drachenmaul irgendwelche Kreaturen zu erschaffen. Von dem Knochenmann, dem seufzenden Menschenfresser-Totenschädel und einigen weiteren Spukerscheinungen gefolgt, ging Billa über den Platz vor der Tempelruine. Sie zwängte sich zwischen zwei versteinerten Golems hindurch, sammelte drei armdicke Äste auf, die vom Wind dort hingeschleudert worden waren, und ging mit ziemlich raschen Schritten ins Drachenmaul hinein.
Sie wollte das hier hinter sich bringen – und dann so schnell wie irgend möglich zurück ans Tageslicht. Ihren Triumph auskosten, ihre neue Stärke, ihren Sieg über all den Horror hier draußen und gegen ihre eigene Angst. Laura ist tot, dachte sie, es lebe Billa.
Zwischen den kolossalen Mauern der Tempelruine war es sogar noch dunkler als draußen im Wald. Die Luft war klamm und dumpf, es roch nach uraltem Staub und Schlamm. Aber es war nicht der modrige Gestank, der von feuchten Kellermauern ausgeht, sondern ein drückend stickiger Geruch, der Billa an das Reptilienhaus im Münchner Zoo erinnerte. Warm, schwer, ein wenig süßlich – wie von Krokodilen, die im brodelnden Schlamm am Ufer eines Tropenflusses liegen.
Billa holte die kleine Kerze und das Feuerzeug heraus, die sie für diesen Zweck von Sina mit auf den Weg be kommen hatte. Sie zündete den Docht an, klaubte die Äste wieder auf, die sie kurzzeitig an die Ruinenwand gelehnt hatte, und drang weiter in das Drachenmaul ein. Der Gestank wurde jetzt mit jedem Schritt drückender. Unmengen von Tierknochen und fauligen kleinen Fellbündeln bedeckten hier den Boden. Dazwischen immer wieder Steinbrocken, über die sie stolperte, denn der Kerzenschein wurde von der Dunkelheit fast vollständig aufgesaugt.
Das Herz schlug Billa bis in den Hals hinauf, aber sie zwang sich, weiterzugehen. Vor jedem Schritt tastete sie mit dem Fuß über den Boden. Schließlich fühlte sie unter ihrem linken Fuß nur noch Luft. Sie blieb stehen und leuchtete mit ihrer Kerze den Boden an. Anscheinend stand sie genau vor dem Schacht, der laut Sina zum Auge hinunterführte.
Neben ihr rang der Knochenmann rasselnd um Atem und der Menschenfresser-Totenschädel winselte zum Erbarmen. Aber Billa umklammerte die drei Äste, die sie unter dem rechten Arm gebündelt trug, nur noch entschlossener und machte sich an den Abstieg.
Der Gang zum Auge hinab war tatsächlich so glitschig, wie Sina es angekündigt hatte. Unregelmäßige Stufen, mit Moos und Moder überzogen. Doch Billa stieg unbeirrbar hinab, bis sie unter sich eine Art dunkles Schimmern bemerkte. Das musste das Auge sein, der unterirdische Brunnen oder was auch immer sich dort verbergen mochte.
Ihre Aufgabe war es laut Sina jedenfalls, »das Auge zu öffnen«. Am Rand des Wasserlochs angekommen, sollte sie ihre Kerze auf der untersten Stufe festkleben. Dann sollte sie einen der mitgebrachten Äste nehmen und »den Schleier vom Auge reißen«, wie Sina das ausgedrückt hatte. Billa hatte damit gerechnet, dass dieser Schleier im Großen und Ganzen einfach aus Dreck und Spinnweben bestehen würde, die sich im Verlauf von Jahrzehnten und Jahrhunderten dort angesammelt hatten. Im flackernden Kerzenlicht war nur eine grau-weiße Fläche mit ein paar dunkleren Einsprengseln zu erkennen.
Aber als Billa mit einem ihrer Äste hineinstechen wollte, hätte sie vor Entsetzen und Ekel beinahe aufge schrien. Der »Schleier« bestand aus einer zähen, federn den Schicht. Sie dellte sich unter dem Anprall spürbar ein – und schleuderte dann den Ast regelrecht zu Billa zurück.
Es war, als ob die
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