Gößling, Andreas
zusammengerollte Seil auf. Packte es wie ein Lasso, ließ ein Seilende über seinem Kopf kreisen und warf es mit Schwung so weit oben wie nur möglich um einen der Balken im Hexen-X. Zum Glück hatte er sich letztes Jahr mal ziemlich gründlich mit der Kunst des Knotens beschäftigt – Seemannsknoten, Henkersknoten, magische Knoten, Knotenschrift. Mit einem Satz sprang er in die obere V-Hälfte des Hexenzeichens, knotete den Strick mit einem einfachen Palstek am Balken fest. Dann umklammerte er das Ende des verzurrten Seils mit beiden Händen und fasste den Punkt ins Auge, wo er runterkommen musste: haargenau vor dem vorderen Hexenzeichen.
Ziemlich in der Mitte zwischen den beiden Xen war immer noch der Balken mit der daran aufgeknüpften Strohpuppe zu sehen, aber nur noch so blass und durchsichtig wie Nebelfäden. Egal, was sie ihm da jetzt wieder ins Bannfeld gaukeln würden, schärfte er sich ein – es war nicht real. Es waren bloße Trugbilder, nichts, wo er wirklich dagegenknallen, was ihn aufhalten oder ihm sonst wie gefährlich werden könnte.
Marian holte tief Luft. Dann stieß er sich vom Hexenbalken ab, flog an seinem Seil durchs Bannfeld, durch den Schattenbalken mit seinem Schattenstroh-Avatar, und kam genau dort runter, wo er es vorgesehen hatte. Ohne das Seil loszulassen, warf er sich mit dem Oberkörper nach hinten und surfte mit den Füßen voran durch die untere Hälfte des zweiten Hexen-X.
Erst als er auf der anderen Seite war, ließ er den Strick los. Außer Atem blieb er eine halbe Sekunde auf dem Holzboden liegen, lauschte nach draußen, auf das Hufklappern, Räderrattern, das schon gefährlich nah klang. Er rappelte sich auf, riss die Falltür hoch, polterte die Holzleiter runter, rannte den Flur entlang. Bei jedem Schritt klirrte und klimperte er wie ein ganzer Schmuckladen und das schwere Goldpentagramm schwang vor seiner Brust hin und her und knallte alle paar Atemzüge mit Billas Ledersäckchen zusammen. Das klapperte als Antwort mit Billas Milchzähnen, und währenddessen stoppte Marian ganz kurz bei Klothas Zimmer, um drinnen wie draußen das Licht auszudrehen und ihre Kartoffelsacktür zu schließen. Dann zurück in die Küche, über den mit Hexenschmier verklebten Boden und zur Haustür.
Marian keuchte, und sein Herz schlug so laut, dass es ihm wie Donner in den Ohren dröhnte. Aber noch immer verlief alles nach Plan – er rannte auf die Veranda raus, knallte die Tür zu, schloss ab, stopfte den Schlüssel zurück unter die lose Bohle. Dann sofort rüber zum Schuppen, der von Düsterkeit und Gerüchen nach Heu, Fell, Pferdeäpfeln erfüllt war.
Ganz hinten in seiner Box stand der uralte Gaul Justy zwischen runtergekrachten Brettern und sonstigem Gerümpel und kaute auf Strohhalmen rum. Klirrend und scheppernd wie eine kaputte Kirchturmuhr taumelte Marian auf ihn zu und tauchte eben in die Box neben Justy, als er die Kalesche mit Billa und dem Hexentrio auf den Hof rattern hörte.
Keuchend kauerte er sich zwischen mürben Brettern ins Stroh. Noch mal gut gegangen, dachte er, da glühte neben ihm ein grünes Augenpaar auf. Im nächsten Moment sprang die Katze fauchend auf ihn zu, die Kral len ausgefahren, die Zähne gebleckt. Ihre Augen spien schimmelgrüne Flammen und die roten Streifen in ihrem Fell glühten wie Lavaströme im Schnee. Währenddessen kam draußen die Kalesche zum Stehen. Sina und die beiden anderen Frauen riefen und lachten wild durcheinander – anscheinend waren sie blendend gelaunt.
Das sollten sie auch bleiben, dachte Marian. Zumindest so lange, bis er mit Billa wieder auf und davon war. Fauchend flog die Katze auf ihn zu, und als sie auf eine halbe Armlänge heran war, riss er das Pentagramm vor seiner Brust hoch und hielt es wie einen magischen Schild vor sein Gesicht. Mit aller Macht krachte die Kat ze dagegen und – war im selben Moment verschwunden. Ganz einfach weg. Marian japste auf vor Erstaunen. Ja, sonst noch was?, dachte er. Vor seinen Augen hatte sich die Katze in Luft aufgelöst. Eben noch hatte er die Hitze gespürt, die von ihrem Körper ausging, die wütende Gier dieser Bestie, Krallen und Zähne in sein Fleisch zu schlagen. Dann aber wumms – er spürte die Wucht des Aufpralls jetzt noch in seiner Hand. Und nur einen Wimpernschlag später war sie ganz einfach weg gewesen, wie eine Kreidezeichnung, wenn man mit dem Schwamm darüber wischte.
61
Marian grübelte immer noch über die Katze nach, als vorn die Tür knarrte und Billa in den
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