Gößling, Andreas
»Bleib ruhig, denk nach.« Aber sie konnte sich einfach nicht entscheiden, was sie jetzt machen sollte.
Minutenlang saß sie mit hängendem Kopf auf dem Mauersims.
Die Polizisten würden ihr doch kein Wort glauben.
Georg war irgendwo weit draußen im Dschungel und sie hatte nicht mal eine Telefonnummer von ihm. Und in Marias Büro saß dieser Señor Cingalez, der ihr alles andere als vertrauenswürdig schien. Dass er der Mann vom Flughafen war, glaubte sie zwar nicht mehr, aber irgendwie steckte er in der ganzen Geschichte mit drin.
Das hatte sie doch gleich gespürt! Und deshalb hatte sie ja auch geträumt, dass Cingalez Maria verfolgte, in diesem unheimlichen Wald.
Aber das war doch wirklich nur ein Traum gewesen, dachte sie dann wieder. Was konnte denn Cingalez dafür, dass sie so einen Unsinn von ihm geträumt hatte! Und wenn es gar kein Unsinn war?
Wenn Cingalez irgendetwas eingefädelt hatte, um Maria aus dem Weg schaffen zu lassen – weil er ihren Posten wollte oder aus irgendeinem anderen Grund? Was für ein schreckliches Durcheinander! Nein, dachte Carmen, so kam sie wirklich zu keiner Entscheidung. Es half nichts – sie musste erst einmal weitergehen und die Plaza finden. Alles andere würde sich dann hoffentlich irgendwie ergeben.
Als sie aufblickte, ging eben eine Gruppe junger Leute an ihr vorbei. Es waren drei Jungen und zwei Mädchen, vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre alt. Carmen erkannte sie sofort – die Amerikaner oder Briten, die mit ihnen in dem hässlichen Flughafenraum auf den Flieger nach Flores gewartet hatten. Lachend gingen sie die Straße hinunter und der dünne Blonde mit dem Pferdeschwanz schien sie auch zu erkennen – im Vorbeigehen nickte er ihr mit einem Lächeln zu.
Carmen sprang auf und lief in einiger Entfernung hinter ihnen her. Nach höchstens fünfzig Metern zweigte rechter Hand eine breitere Straße ab, für die sich die Touristen nach kurzer Debatte entschieden. Carmen folgte ihnen, denn diese Straße führte wieder bergauf, würde sie also der Plaza näher bringen. Es war eine helle, freundliche Straße mit Restaurants, Bars und Cafés. Viele junge Leute aus dem Westen waren hier unterwegs, genau wie Maria es vorausgesagt hatte. Sie saßen in Straßencafés oder hockten auf dem Bürgersteig. Andere feilschten mit Händlern, die Sonnenhüte, Erdnüsse und Ananas verkauften, oder kamen, schwer bepackt mit Rucksäcken, aus den Eingängen der zahlreichen Hotels. Carmen hörte englische, französische und sogar deutsche Satzfetzen. Autos und Motorräder fuhren lärmend vorbei. Und dort vorn gab es auch ein Internet-Café, »30 min – 6 Quetzales« las sie im Vorübergehen.
Plötzlich fühlte sie sich viel besser. Auch ihre Gedanken schienen ihr auf einmal ganz klar. Sie würde jetzt hinauf zur Plaza gehen und bei der Polizei melden, was sie beobachtet hatte. Vielleicht gab es ja eine harmlose Erklärung für diese ganze Bootsgeschichte. Anschließend würde sie hierher zurückkommen und Lena eine E-Mail schreiben. Ihre Freundin wusste bestimmt ganz genau, was sie in Carmens Situation machen würde – ach was, dachte sie dann, die ordentliche, immer vernünftige Lena würde nie in eine solche Lage geraten. So etwas passierte eben immer nur ihr, der chaotischen Carmen. Aber wer weiß, dachte sie dann, wenn ich nachher zu unserem Haus zurückgehe, ist Maria vielleicht schon wieder da.
Die Straße führte zur Linken der großen Kirche auf die Plaza hinauf. Carmen verstand überhaupt nicht mehr, wieso sie sich eben derart verirrt hatte. Flores bestand doch nur aus einer Hand voll Straßen. Aber sie hatte einfach die Nerven verloren, als auch noch der unheimliche Alte im weißen Hemd erschienen und sein riesiger Hund mit diesem dröhnenden Bellen auf sie losgestürzt war.
Auf der Plaza waren die meisten Marktbuden mittlerweile wieder abgebaut. Jetzt hatte man freien Blick auf die gewaltige, fast schwarze Fläche des Sees. Draußen über dem Wasser zuckten schon Blitze über den Himmel und die fernen Ufer waren in Nebel gehüllt. In wenigen Minuten würde es ein heftiges Gewitter geben.
Über dem Platz schwirrten Unmengen von Mücken durch die Luft. Scharen zerlumpter Männer liefen mit großen Besen herum und kehrten faulige Bananen, Hühnerknochen und sonstigen Unrat zusammen. Carmen wollte sich eben nach rechts wenden, zu dem großen grauen Haus, das laut Maria die Polizei beherbergte. Da hörte sie von links her eine bekannte Stimme – Cingalez! Rasch verbarg sie
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