Gößling, Andreas
Dorn aus. Wenn plötzlich jemand vor ihr stehen würde – sie würde das Messer fallen lassen und schreiend weglaufen. Oder was sonst? Lieber nicht ausprobieren. Also klapperte sie weiter so laut wie möglich mit Türen und Möbeln herum. Falls irgendwer sich hier im Haus herumtrieb, fiel er ja vielleicht auf ihre Komödie herein. Aber eigentlich machte sie nur deshalb einen solchen Lärm, weil sie die schreckliche Stille nicht ertrug.
Von der Küche gingen zwei Türen ab – eine führte hinaus auf die Veranda, die zweite in den hinteren Teil des Bungalows. Das Messer in der Hand, schaltete Carmen auch im Flur vor den Schlafzimmern Licht ein. Der Gang war schmal wie ein Schlauch, die Wände schimmelgrün bemalt. Unter der Decke hing eine einsame Glühbirne, die gelbstichiges Licht verströmte. Von hier gingen vier weitere Türen ab – vorn das Schlafzimmer von Georg und Maria, gegenüber ein Raum, den beide als Arbeitszimmer nutzen wollten. Hinten Carmens Zimmer und vis-á-vis davon das Bad. Alle vier Türen waren geschlossen. Und je länger Carmen von der Küche aus in diesen engen, grüngelblichen Flur spähte, desto mehr kam er ihr wie eine Falle vor.
Aber sie musste dort hinein. Sie war immer noch tropfnass, ihre Jeans bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt. Sie brauchte dringend eine Dusche. Und ihr Koffer mit den paar Kleidungsstücken, die sie im Flugzeug mitgenommen hatte, war dahinten in ihrem Zimmer.
Sie stand auf der Schwelle zwischen Küche und Flur und wusste einfach nicht weiter. »Maria?« Wie piepsig ihre Stimme auf einmal klang. Ihre Knie begannen zu zittern. Ein Tropfen lief ihr den Rücken herunter. Sie hätte nicht einmal sagen können, ob es ein Regen-oder Schweißtropfen war.
Hi Lena, was soll ich jetzt bloß machen? Ich hab so verdammte Angst. Warum nur bin ich vorhin nicht zurück zu diesem Internet-Café? Ich wollt dir doch eine E-Mail schreiben -
Herrje, fing sie jetzt an durchzudrehen? Ihre Gedanken gingen ja völlig durcheinander! Carmen rieb sich über die Augen. Hände und Gesicht fühlten sich klebrig an – von ihrem Schweiß und von dem warmen Regen, der mit Mengen von Blütenstaub vermischt war.
Reiß dich zusammen, dachte sie, sonst stehst du morgen früh noch hier und starrst in diesen schimmelgrünen Gang.
Sie holte Luft, packte das Messer fester und lief durch den Flur – vier Schritte, fünf, sechs, na also. Sie stieß ihre Tür auf, schaltete das Licht ein und starrte mit angehaltenem Atem in ihr Zimmer. Das zerwühlte Bett, auf dem Boden der Koffer, ihre Turnschuhe, ein paar zerknüllte Anziehsachen. Der Holzladen vor ihrem Fenster schien unversehrt, soweit das aus dieser Entfernung zu sehen war.
Carmen atmete aus und die Luft fuhr mit einem Zittern aus ihrer Kehle. Dann drehte sie sich herum und untersuchte das Badezimmer auf die gleiche Weise – und mit dem gleichen Resultat. Keine finsteren Jungs mit leuchtend gemusterten Hosen, die darauf lauerten, ihr ein Betäubungsgift in den Arm zu spritzen.
Tja, Bertie, hier könnt ich dich als Bodyguard gebrauchen.
Plötzlich musste sie grinsen, allerdings nur ganz kurz. Aus ihrem Koffer holte sie schnell ein paar Anziehsachen, dann schloss sie sich im Bad ein, duschte in Windeseile und war schon wieder fertig angezogen, bevor sie sich auch nur halbwegs ausgemalt hatte, was alles hätte passieren können, während sie unter dem prasselnden Wasserstrahl stand.
In den sauberen Jeans und ihrem Lieblings-T-Shirt fühlte sie sich gleich viel besser. Stärker, zuversichtlicher – und auf einmal völlig ausgehungert. Vorn in der Küche hatte sie vorhin eine Ananas gesehen. Außerdem Maismehl in einer Dose, Eier und Milch im asthmatisch keuchenden Kühlschrank. Das lief offenbar wieder auf Pfannkuchen raus. Na, warum nicht.
Einen Teller mit Ananasstücken und einen zweiten voll dampfender Pfannkuchen in den Händen, stieß sie kurz darauf die Tür zur Veranda auf. Es war schon wieder schwülheiß, aber nach dem Sturz-regen roch die Luft angenehm frisch. Carmen stellte ihre Teller auf den wackligen Verandatisch unter dem Strohdach. Mist, sie hatte kein Besteck mitgebracht.
In einer Küchenschublade fand sie Messer und Gabel. Flüchtig dachte sie an das riesige Messer mit den rostigen Zacken, das sie irgendwo in ihrem Zimmer oder im Bad liegen gelassen hatte. Damit war doch im Ernst sowieso nichts anzufangen. Wenn jetzt wirklich irgendwer mit Gewalt in dieses Haus eindrang – sollte sie sich vielleicht auf ihn stürzen und
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