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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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Zeit fingen sämtliche Urwaldvögel aus voller Kehle zu singen und zu pfeifen an. Es war ohrenbetäubend, vollkommen unwirklich – Millionen unsichtbarer Dschungelvögel machten einen solchen Krach, dass man sogar seine eigenen Gedanken nicht mehr mitbekam!
    Pedro hatte ihr dieses Spektakel vorhin angekündigt, aber Carmen hatte geglaubt, dass er maßlos übertrieb. Doch als er sich jetzt neben sie stellte und ihr etwas ins Ohr schrie, spürte sie nur seinen kitzelnden Atem an ihrem Ohrläppchen, verstand aber kein einziges Wort. Zehn Schritte voraus auf dem Pfad stand Yeeb-ek neben dem alten Mann und bellte lautlos zu den Baumwipfeln hinauf. Der Großvater schwang seinen Stock und schrie ihnen etwas Unhörbares zu. Hunderttausendmal lauter schrien die Dschungelvögel, so grell und kreischend, dass Carmen ein Ziehen tief in ihrem Bauch spürte und gleichzeitig Lust bekam, mit ihnen mitzuschreien. Es klang, als ob ein riesenhaftes Wesen diese Schreie lange Zeit in sich aufgestaut hätte, um sie nun allesamt in einem einzigen Schwall aus sich he-rauszulassen. Angst und Liebe, Wahnsinn und eine völlig hemmungslose Lebensgier.
    Aber was um Himmels willen machte Pedro denn da? In Windeseile knöpfte er sein Hemd auf und zog es aus. Immer noch stand er so dicht neben ihr, dass sie seinen Atem auf ihrer Schläfe spürte.
    Doch jetzt machte Carmen einen Schritt zurück. Was sollte das denn bitte schön werden?
    Pedro lachte sie an. Zur gleichen Zeit machte er seinen Gürtel auf, zippte seinen Reißverschluss runter und ließ seine Jeans bis auf die Fußknöchel fallen. Dann bückte er sich blitzschnell, zog seine Turnschuhe aus, schlüpfte mit den Füßen aus seiner Hose und knüpfte alles – Hemd, Jeans, Schuhe – im Handumdrehen zu einem kleinen Bündel zusammen.
    Als er sich wieder aufrichtete, war er nackt bis auf ein Tuch um seine Hüften. Einen Lendenschurz oder wie die Leute hier so was nennen mochten. Pedro hatte einen schlanken, sehnigen Körper und er lachte sie immer noch an. Jetzt fuchtelte er in der Luft herum und rief ihr etwas zu. Aber Carmen sah nur seine Lippen, die sich wie im Stummfilm bewegten, und seine Arme, mit denen er herumwedelte, als ob er selbst ein Vogel wäre. Verrückt, dachte Carmen, verrückt, völlig verrückt! Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie laut lachte – lachte und schrie, und gleichzeitig hatte sie Tränen in den Augen.
    Dabei war ihr überhaupt nicht zum Heulen zu Mute, niemals vorher hatte sie sich so federleicht gefühlt. Und so sehr voller Freude, Sehnsucht, Liebe.
    Plötzlich stand Yeeb-ek neben Pedro und stupste ihn an. Auf seinem Rücken trug der große Hund immer noch den Sombrero. Zwischen den Zähnen aber hielt er ganz vorsichtig ein weißes Stoffbündel, das mit einem Muster in kräftigen Rot-und Grüntönen verziert war.
    Pedro klopfte dem Hund das Fell, nahm ihm das Bündel aus dem Maul und ließ es sich in der Luft entrollen. Es war ein Gewand, erkannte Carmen, ähnlich dem langen Hemd, das der Großvater trug, nur mit bunten Figuren und Ornamenten bedeckt. Im Handumdrehen hatte sich Pedro das Hemd über den Kopf gestreift und grinste ihr wieder zu.
    Mittlerweile war es so düster geworden, dass sie Pedros Gesicht kaum mehr erkennen konnte, nur seine blitzend weißen Zähne und ein funkelndes Augenpaar. Den Großvater hinter ihm hatte die Dunkelheit schon ganz verschluckt. Die Vögel kreischten immer noch, aber sie wurden schon leiser, so als ob der Wald langsam in Schlaf versänke. Pedro hatte ihr angekündigt, dass die Vögel in dem Moment völlig verstummen würden, in dem es ganz und gar Nacht geworden wäre.
    Langsam ging Carmen wieder auf Pedro zu. Sie fühlte sich immer noch ganz durcheinander, aber jetzt spürte sie auch wieder, wie müde sie war. Außerdem richtig hohl vor Hunger und völlig ausgedörrt. Pedro nahm ihre Hand. Hinter Yeeb-ek gingen sie weiter den Pfad entlang. Von ihrem Weg war überhaupt nichts mehr zu sehen, nur ein Funkeln vom Sombrero, der glücklicherweise mit Glitzerfäden verziert war. Nach dem Wahnsinnskonzert der Vögel wirkte die Stille seltsam feierlich. Nur ihre Schritte waren zu hören und das Hecheln des Hundes vor ihnen in der Dunkelheit.
    Hinter einer Wegbiegung flammten auf einmal Lichter auf – zehn, zwanzig, dreißig Flammenkegel, die eine Figur im Finsteren bildeten, ein lang gezogenes Oval. Hand in Hand blieben Pedro und Carmen stehen. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Die Flammenkegel waren

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