Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
erreicht, ob er gegebenenfalls eine Ratsstelle annehmen würde. Inzwischen aber war Frankfurt von den Franzosen besetzt, und er konnte nicht dorthin reisen. Das kam ihm jetzt sogar gelegen, denn die Anfrage ließ sich leichter mit einem Brief als vor Ort erledigen. So schrieb er der Mutter dann später von Weimar aus einen Brief, der dafür bestimmt war, vorgezeigt zu werden. Darin heißt es, daß er als eingeborener Republikaner sich von dem Angebot außerordentlich geehrt fühle und er eigentlich gerne in stürmischen Zeiten solche Verantwortung übernehmen würde; doch widerstreite diesem Wunsch eine andere große Verpflichtung:
Des Herzogs Durchl. haben mich seit sovielen Jahren mit ausgezeichneter Gnade behandelt, ich bin ihnen soviel schuldig geworden daß es der größte Undank sein würde meinen Posten in einem Augenblicke zu verlassen da der Staat treuer Diener am meisten bedarf.
Das war noch einmal eine nachdrückliche Entscheidung für Weimar.
Statt sich also nach Frankfurt zu wenden, reist er den Rhein hinunter, um in Pempelfort bei Düsseldorf, auf dem idyllischen Landgut des Freundes Fritz Jacobi, sich von dem soeben durchlebten
bösen Traum
zu erholen im
gemütlichen Zusammensein
mit alten Freunden und Bekannten, die sich auch sogleich einfanden auf die Nachricht von Goethes Eintreffen hin. Doch ungetrübt war das Zusammensein nicht. Eine Entfremdung war spürbar. Sie erschien Goethe noch im Rückblick so gravierend, daß er an dieser Stelle seiner Erzählung seine bisherigen Wandlungen rekapituliert, um den jetzigen Punkt der Differenz zu erläutern, den er auf den Begriff des
Realismus
bringt. Es sei ihm immer dann unbehaglich geworden, schreibt er, wenn sein
Realismus zum Vorschein kommend die Freunde nicht sonderlich erbaute
.
Was bedeutet Realismus in diesem Zusammenhang? Die Sehnsucht früherer Jahre sei einer teils ernüchternden, teils befriedigenden Erfüllung gewichen.
Das Sehnsüchtige das in mir lag, das ich in früheren Jahren vielleicht zu sehr gehegt, und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr ziemen, nicht mehr genügen, und er suchte deshalb die volle endliche Befriedigung.
Er hatte sich nach Italien, dem Land der Kunst, gesehnt. Er war dorthin gereist, aus Sehnsucht wurde Wirklichkeit, er hatte die Kunst gefunden und sich in ihr gebildet und umgebildet. Der geniale Schwung früherer Jahre hatte sich mit einer gewissen Tüchtigkeit und mit Kenntnissen verbunden. Für die Göschen-Ausgabe hatte er Werke, die seit Jahren unvollendet geblieben waren, zu einem Abschluß gebracht. Auch das war ein Gewinn an Wirklichkeit, denn ein Fragment ist doch bloß die Möglichkeitsform eines Werkes. Er hatte auch aufgehört, der Natur nur schwärmerisch zu begegnen, und hatte inzwischen angefangen, sie zu studieren und zu erforschen. Mit anderen Worten: Goethe fühlt sich als jemand, der nicht nur realistischere Ansichten gewonnen hat, sondern selbst wirklicher geworden ist.
Vielleicht sogar zu wirklich. Das soeben durchlebte Kriegsgeschehen hat ihm für den Augenblick den Sinn
verhärtet
. Eine Lesung der »Iphigenie«, worum ihn die Freunde bitten, kann er gar nicht ertragen,
dem zarten Sinn fühlt’ ich mich entfremdet
.
Vier Wochen blieb Goethe in Pempelfort, machte auf der Rückreise dann noch in Münster Zwischenstation bei der Fürstin Gallitzin und ihren Freunden. In diesem vornehmen, katholisch-spirituellen Kreis war eigentlich auch wieder der
zarte Sinn
gefordert. Die Fürstin erinnerte ihn an das Fräulein von Klettenberg. Der Zauber der Jugendeindrücke half ihm, sich einzufügen. Man war fromm, und er selbst
betrug sich danach
, was ihm auch dadurch erleichtert wurde, daß sich die Frommen hier
gesellig, klug und nicht beschränkend
gaben. Man verstand sich gut und stimmte darin überein, daß
jede Verehrung eines würdigen Gegenstandes immer von einem religiosen Gefühl begleitet ist.
Kurz vor Weihnachten 1792 kam Goethe wieder in Weimar an.
Sei vergnügt, mein liebes Kind,
so kündigt er Christiane die baldige Ankunft an,
genieße der Ruhe, indes soviele tausend Menschen von Haus und Hof und allen ihren Gütern vertrieben in der Welt herumirren und nicht wissen wohin. Küsse den Kleinen und liebe mich. Mein einziger Wunsch ist dich bald wieder zu besitzen
.
Goethe fühlt sich in seinem Hauswesen, bei Weib und Kind, angekommen wie an einem rettenden Ufer. Diese Erfahrung der Liebe im Winkel, die man der großen Geschichte abtrotzt,
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