Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
genießt, der Schwester mittels Sprache seine neue Wirklichkeit zu vergegenwärtigen: Er
tue die Augen auf, und sieh! – Hier steht mein Bett! da meine Bücher! dort ein Tisch aufgeputzt wie deine Toilette nimmermehr sein kann.
〈...〉
Eben besinne ich mich. Ihr andern kleinen Mädgen könnt nicht so weit sehen, wie
wir Poeten. Doch eine kräftige Sprache der Vergegenwärtigung genügt nicht, es muß auch ein Erlebnisstoff hinzukommen, der die Kunst der sprachlichen Darstellung herausfordert.
Das große Erlebnis und damit der Stoff für eine Briefflut ergab sich, als im Frühjahr 1766 die Liebesgeschichte mit der drei Jahre älteren Anna Katharina Schönkopf begann. ›Kätchen‹, wie sie allgemein genannt wurde – bei Goethe heißt sie »Ännchen« oder »Annette« – war die Tochter des Weinhändlers und Gastwirts Schönkopf. Johann Georg Schlosser, Advokat und Literat aus Frankfurt und später Goethes Schwager, war dort zur Ostermesse abgestiegen, ebenso Freund Horn, der nun auch in Leipzig sein Studium begann. Das veranlaßte Goethe, mit den beiden dort zu Mittag zu speisen. So lernte er die Wirtstochter kennen. Nach wenigen Tagen war er entflammt. Kätchen wird übereinstimmend als hübsche, ein wenig kokette, kluge junge Frau geschildert, die sich unbefangen gab und doch auf Abstand hielt. Fürs erste verbarg Goethe seine Neigungen. Selbst Horn merkte zunächst nichts davon und ließ sich sogar in die Irre führen: Goethe hatte ihm eine Tändelei mit einem adligen Fräulein vorgespiegelt, worauf Horn hereinfiel. Als ihm Goethe ein halbes Jahr später das wahre Verhältnis entdeckte, war er sehr angetan. »Wenn Goethe nicht mein Freund wäre«, schreibt er an Moors, »ich verliebte mich selbst in sie.« Horn weiß auch zu berichten, daß Goethe die Wirtstochter »sehr zärtlich« liebt, jedoch »mit den vollkommen redlichen Absichten eines tugendhaften Menschen, ob er gleich weiß, daß sie nie seine Frau werden kann.« Tatsächlich betont Goethe in einem Brief an Moors, daß er die Zuneigung des Mädchens nicht durch Geschenke gewonnen habe oder dadurch, daß er seine soziale Überlegenheit ausgespielt habe:
nur durch mein Herz habe ich sie erlangt
, schreibt er stolz. Das
fürtreffliche Herz
des Mädchens sei ihm
Bürge, daß sie mich nie verlassen wird, als dann wenn es uns Pflicht und Notwendigkeit gebieten werden uns zu trennen.
Das klingt allzu vernünftig. Keine Liebe, die sich kraftvoll über alle Grenzen hinwegsetzt. Keine Werther-Liebe, es ist eher die altkluge Bedächtigkeit von Werthers Widerpart Albert, der im Roman bekanntlich schlecht wegkommt. Goethe wußte, daß sein Vater es wohl nicht hingenommen hätte, wenn das Verhältnis zu einer Wirtstochter von Dauer gewesen wäre. Deshalb schrieb er ihm nichts davon, nur die Schwester wurde eingeweiht, doch eher beiläufig und verharmlosend. Die kleine Schönkopf, schreibt er an Cornelia auf Französisch, verdiene unter seinen Bekanntschaften nicht unerwähnt zu bleiben. Sie sei seine Wirtschafterin, kümmere sich um Wäsche und Kleidung; darauf verstehe sie sich sehr gut und es bereite ihr Vergnügen, ihm in diesen Dingen behilflich zu sein, dafür liebe er sie. Er wollte die Schwester nicht eifersüchtig machen, deshalb erfand er diese Version; wie anders erscheint diese Liebe in den Briefen an Behrisch, den engsten Freund der Leipziger Jahre!
Goethe hatte den elf Jahre älteren Ernst Wolfgang Behrisch zur selben Zeit wie Kätchen im Hause Schönkopf kennen gelernt und sich ihm angeschlossen. Behrisch wurde für ihn ein Freund und Seelenführer. Der junge Goethe, der den Gleichaltrigen zumeist überlegen war, suchte in den nächsten Jahren auch sonst eher ältere Freunde, die ihm an Erfahrung und Besonnenheit voraus waren und von denen er sich Verständnis und Orientierung für sein verwirrendes inneres Leben versprach, so etwa Salzmann in Straßburg oder Merck in Darmstadt.
Behrisch war als Hofmeister des zwölfjährigen Grafen von Lindenau nach Leipzig gekommen und hatte mit seinem Zögling in
Auerbachs Hof, wenige Schritte von Goethes Wohnung entfernt, Quartier genommen. Er war ein wunderlicher Kauz und eine markante Erscheinung, hoch gewachsen, hager und mit einer langen spitzen Nase. Er gab sich vornehm und hätte den galanten Mann des Rokoko vorstellen können, wäre ihm nicht das Bunte zuwider gewesen. Er kleidete sich in ein Grau, dem er zahlreiche Tönungen abgewann, blaugrau, grüngrau, graugrau. Mit dem gewissen feierlichen
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