Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Stunde. Er verfuhr dabei nach dem Grundsatz, daß die jungen Leute zuerst einmal lernen sollten, sich in deutlicher Prosa auszudrücken. Verse nahm er nur sehr ungern an. In »Dichtung und Wahrheit« spürt man noch die Kränkung darüber, daß Gellert so wenig Notiz vom jungen Goethe nahm, der ihm sein Hochzeitsgedicht auf den Onkel Textor vorgelegt hatte. Gellert reichte es sogleich an seinen Stellvertreter und Nachfolger Clodius weiter. Der gebrauchte die rote Tinte reichlich, weil Goethe in seinem Gedicht den halben Olymp herbeizitierte, freilich in humoristischer Absicht, was Clodius nicht erkannte.
Gellert war eine Autorität, die im Abnehmen begriffen war. Noch mehr galt das für Johann Christoph Gottsched, diesen körperlich riesengroßen Mann, den die preußischen Werber gerne für die ›Langen Kerls‹ eingefangen hätten. Gottsched hatte zwischen 1730 und 1750 eine literarische Geschmacksherrschaft errichtet und den Hanswurst von der Bühne vertrieben und war überhaupt bestrebt gewesen, die Literatur stubenrein zu machen durch Angleichung an das französische Vorbild. Er wollte die Literatur auf gehobene Nachahmung, sittliche Nützlichkeit und Wahrscheinlichkeit verpflichten. Homer beispielsweise, erklärte er, verstoße gegen alle Wirklichkeitsnähe, wenn er uns in der »Ilias« glauben mache, »daß sich zwei tapfere Völker um eines schönen Weibes willen zehn Jahre lang die Köpfe zerschmeißen würden.« Darum könne Homer »auf keine Weise gerettet werden«. Solche Lehren mußten den jungen Goethe, der seinen Homer mit Begeisterung las, abstoßen. Wahrscheinlichkeit und Naturnähe, das wurde ihm klar, durften nicht so definiert werden, daß etwas derartig Plattes dabei herauskam. Gottsched paßte für ihn ganz einfach nicht mehr in die Zeit. Eine Begegnung mit ihm schildert er in »Dichtung und Wahrheit« als Lustspielszene. Er wird ins Audienzzimmer gebeten. In dem Augenblick betritt Gottsched den Raum, riesenhaft, im grünen, rot gefütterten Schlafmantel, kahlen Hauptes. Der Bediente springt durch eine Nebentür herein und reicht ihm eilends die mächtige Allongeperücke. Mit einer Hand setzt Gottsched sie sich aufs Haupt, mit der anderen ohrfeigt er den Bedienten wegen der Verspätung. Der wirbelt wieder zur Tür hinaus,
worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand durchführte
.
So
groß
, wie noch im zerknirschten Gedicht an Riese, erschienen ihm die Matadore der Literatur in Leipzig inzwischen nicht mehr. Aber auch das kann zum Problem werden.
Und so rückte
, heißt es in »Dichtung und Wahrheit«,
nach und nach der Zeitpunkt heran, wo mir alle Autorität verschwinden und ich selbst an den größten und besten Individuen, die ich gekannt oder mir gedacht hatte, zweifeln, ja verzweifeln sollte
.
Als Goethe im Herbst 1767 feierlich den größeren Teil seiner Jugendwerke in den Ofen steckte und durch den Qualm seine Hauswirtin in Panik versetzte, war er nicht mehr von den
großen Männern
entmutigt, sondern ließ sich leiten von den eigenen hohen Ansprüchen, denen das bisher Geleistete nicht genügte. Als Stichworte zur geplanten Autobiographie sind für das Jahr 1767 vermerkt:
Selbstbildung durch Verwandlung des Erlebten in ein Bild.
Mit diesen wenigen Worten deutet er seine Poetik von damals an: Übereinstimmung mit der gewöhnlichen Realität reicht nicht, auch nicht bloßer Ausdruck des Innenlebens. Das Erlebte soll
verwandelt
werden in ein
Bild
. Das Erleben ist flüchtig, das künstlerische Schaffen bewahrt eine dauerhafte Spur, eben ein
Bild
, Form gewordenes Erleben. Der junge Goethe war schon versiert in der Handhabung der Formen, aber er wußte inzwischen auch, daß man sie mit eigenem Leben erfüllen mußte. Das nannte er
nach der Natur
arbeiten, und das hieß für ihn auch, sich frei zu lassen, damit etwas wachsen und gedeihen kann. Er besitze
Eigenschaften
〈...〉
die zu einem Poeten erfordert werden,
man müsse ihn nur gewähren lassen und ihn nicht durch vorzeitige Kritik behindern. Nur so könne sich seine Natur zeigen.
Man lasse doch mich gehen, habe ich Genie; so werde ich Poete werden, und wenn mich kein Mensch verbessert, habe ich keins; so helfen alle Kritiken nichts.
Der junge Goethe, der sich hier ausdrücklich das Recht auf ungestörten Selbstausdruck zubilligt, hatte inzwischen den Brief als bevorzugtes Übungsgelände für subjektives Schreiben entdeckt. Man merkt, wie er es
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