Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
diesen Todesschädel duldet er in seiner unmittelbaren Nähe. Mehr noch. Er ließ sich von ihm zu einem Gedicht anregen. Die in diesem Zeitraum entstandenen »Stanzen« sind ohne Titel überliefert. Eckermann aber, sich auf ein Gespräch mit Goethe berufend, gab ihm wohl nicht zu Unrecht den Titel »Bei Betrachtung von Schillers Schädel«. Es beginnt mit der Schilderung des Durcheinanders der Schädel und Knochen im
ernsten Beinhaus
. Hier liegt zusammen, was möglicherweise nicht zusammengehört. Und dann rückt jener Schädel in den Blick. Er wird nicht genannt, von einem
Gebild
ist vorsichtig die Rede. Und doch deutet alles auf ihn hin:
Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend, / Wie bin ich wert dich in der Hand zu halten? / Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend.
Wie man an einer Muschel das Meer rauschen zu hören glaubt, so fühlt der Meditierende sich beim Anblick dieses
Gebildes
oder
Gefäßes
, dieses einen Schädels also, an ein anderes Meer entrückt. Es ist das Meer, das
flutend strömt gesteigerte Gestalten
. Die ganze Naturgeschichte mit ihren unendlichen Metamorphosen dämmert dem Meditierenden empor. Wie ans Ufer dieser großen Geschichte gespült, liegt nun dieser Schädel vor ihm, dem er die Botschaft abgewinnt:
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen / Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare / Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen / Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.
Nicht lange vor dem eigenen Tod gibt Goethe hier, bei Betrachtung des Schillerschen Schädels, seinem Glauben Ausdruck an die überdauernde Kraft des
Geisterzeugten.
Doch ist auch dieser Geist immer noch Natur, eben
Gott-Natur
.
Man ahnt hier die Intensität der Gegenwart des verstorbenen Freundes im Leben Goethes und wird sich deshalb nicht über die hochgespannten Erwartungen wundern, die Goethe in die Veröffentlichung des Briefwechsels setzte.
Es wird eine große Gabe sein
, schrieb er am 30. Oktober 1824 an Zelter,
die den Deutschen, ja ich darf wohl sagen den Menschen geboten wird. Zwei Freunde der Art, die sich immer wechselseitig steigern indem sie sich augenblicklich expectorieren. Mir ist es dabei wunderlich zu Mute, denn ich erfahre was ich einmal war.
Als dann der Briefwechsel erschien, bleibt es zunächst ziemlich still darum, und als es schließlich doch zu Reaktionen kam, waren sie sehr gemischt. Goethe mußte bemerken, daß die Epoche, der er zusammen mit Schiller einen Stempel aufgedrückt hatte, inzwischen wirklich vorbei war; sie war aber auch noch nicht so ferngerückt, daß sie wieder als etwas Kostbares hätte erscheinen können. Es dominierte polemische Abgrenzung oder leicht gelangweilte Heldenverehrung. Börne zum Beispiel sieht Goethe und Schiller auf dem »ausgetretenen Wege der Selbstsucht« wandeln, wohingegen Varnhagen von Ense diesen Briefwechsel als ein Geschenk des »reichsten Lebensgewinnes« dankbar in Empfang nimmt.
Goethe ließ es sich nicht verdrießen. Die Zeiten haben sich eben geändert, gegenwärtig gehen sie über ihn hinweg, doch man sollte sich nicht beirren lassen, auch für seine Wirksamkeit wird es wieder bessere Zeiten geben. Das war seine enttäuschungsfeste Überzeugung, die er in einem Brief an Zelter so formulierte:
Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in Mittelmäßigkeit zu verharren
. Und dann, wie häufig in den späten Briefen, die trotzige Selbstbehauptung:
Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch Wenigen, die Letzten sein einer Epoche die sobald nicht wieder kehrt.
Karl Friedrich Zelter, der Adressat dieses berühmten und häufig zitierten Briefes, war gelernter Maurermeister, Bauunternehmer und Komponist in Berlin und wurde in den Jahren nach Schillers Tod zu Goethes bestem Freund. Zelter war ein Wunder an Vitalität, er führte eines der erfolgreichsten Bauunternehmen der Stadt, hatte sein Handwerk von der Pike gelernt, stand einer großen Familie vor, war wohlhabend und einflußreich in der Stadt, robust und entschieden im Auftritt, mit Berliner Schnauze und Mutterwitz, menschenkundig, klug, nicht einzuschüchtern, ehrlich bis zur Derbheit. Aber er konnte auch zart und feinfühlig
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