Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Pflanzen verweilend, und die erstern mit seinem mineralogischen Hammer prüfend. Schon fielen längere Schatten von den Bergen, in denen er uns wie eine geisterhafte Erscheinung entschwand.«
Am 10. November 1830 wird Goethe die Nachricht vom Tode seines Sohnes in Rom übermittelt. Wieder ist Kanzler Müller der Todes-Bote. Er überliefert auch Goethes erste Reaktion
non ignoravi, me mortalem genuisse
(Ich habe immer gewußt, daß ich einen Sterblichen gezeugt habe).
August war im Frühjahr nach Italien aufgebrochen mit dem Gefühl, nur dadurch sein Leben retten zu können. Er hielt es zu Hause einfach nicht mehr aus. Das Verhältnis zu Ottilie war zerrüttet. Sie schrieb nach Augusts Abreise an Adele Schopenhauer, »Augusts Rückkehr droht mir wie eine unheilbringende Wolke 〈...〉 Wenn ich mir denke, daß ich August nicht wiedersehen könnte, so empfinde ich auch nicht die leiseste Bewegung«. Ottilie war also froh, daß sie ihren Mann los war, und August fühlte sich befreit. Immerfort die Rolle des Sohnes eines großen Vaters spielen zu müssen, war ihm zur Qual geworden. Er wollte endlich sich selbst finden, er hoffte, daß ihm dies in Italien gelingen könnte. An Ottilie schrieb er nach wenigen Wochen die erste Erfolgsmeldung: »Nicht Üppigkeit oder Neugier konnten mich aus meiner Familie reißen, die äußerste Not trieb mich, um den letzten Versuch zu meiner Erhaltung zu machen. Manche, die mich in Weimar zuletzt gesehen, mögen das nicht begreifen, aber mein damaliges Benehmen war eine verzweifelte Maske. Ich wollte, Du könntest mich jetzt beobachten! Welche Ruhe im Gemüt ist eingetreten, wie stark fühle ich mich wieder«.
Und doch verfolgt ihn auch weiterhin der Schatten des Vaters. Denn wie dieser sollte und wollte auch er seine Italienische Reise schreiben. Er hatte sich zu bewähren und stand unter Beobachtung, wenn er seine Briefe nach Zuhause schrieb. Goethe las sie mit kritischem Auge, fast wie ein Rezensent. August schrieb, er sei endlich frohen Mutes. Der Vater aber glaubte ihm nicht, er fand in den Bekundungen des Wohlergehens einen forcierten, exzentrischen Ton. Zu viel Absichtlichkeit. Er habe sich auf Schlimmes gefaßt gemacht, schreibt er später. Das Schlimme war eingetreten. Binnen weniger Tage starb August an einer Hirnhautentzündung. Die Obduktion ergab außerdem, daß die Leber übergroß geworden war. August war Trinker.
Nach der Todesnachricht schrieb Goethe eine Woche lang keinen Brief, er, der sonst täglich mehrere Briefe schrieb. Am 25. November erleidet er einen Lungenblutsturz. Man glaubt, er würde es nicht überleben. Doch schon nach wenigen Tagen erholt er sich. An Zelter:
Noch ist das Individuum beisammen und bei Sinnen. Glück auf!
Er schickt das ärztliche Bulletin, das seine Genesung vermeldet, triumphierend herum, doch er klagt auch über die neuen Belastungen.
Das eigentliche wunderliche und bedeutende dieser Prüfung ist,
schreibt er an Zelter,
daß ich alle Lasten, die ich
〈...〉
einem jünger Lebigen zu übertragen glaubte, nunmehr selbst fortzuschleppen und sogar schwieriger weiter zu tragen habe.
Der Einundachtzigjährige muß sich selbst wieder um das Hauswesen kümmern. Unter seinem Kopfkissen liegt jetzt der Schlüssel zum Holzschuppen, er kontrolliert die Einkaufszettel und muß sich mit dem Personal herumärgern. Doch das alles scheint ihn auch zu beleben. Auf seine Umgebung wirkt er gekräftigt, verjüngt. Das zeigt sich auch, als Henriette von Beaulieu-Marconnay ihm Anfang Dezember 1830 Erinnerungen an ihre Freundin Lili von Türckheim, geborene Schönemann zukommen läßt. Also Lili, seine einstige Geliebte.
Ihr teures Blatt
mußte ich, mit Rührung, an die Lippen drücken
, schreibt er an Henriette. Diese Lebensgeister sind immer noch wach.
Im August 1831 ein sonnenreicher Spätsommer. Goethe möchte vor den Feiern zum zweiundachtzigsten Geburtstag ausweichen. Es ist das Übliche, er fühlt sich ganz einfach noch nicht so alt und will auch nicht ständig ans Alter erinnert werden. Am frühen Morgen des 26. August 1831, einem Freitag, läßt er anspannen, noch liegt Morgennebel über dem Land. Doch es verspricht ein sonniger Tag zu werden. Letzte Ausfahrt nach Ilmenau, um noch einmal – vielleicht ein letztes Mal, so mag er geahnt haben – Orte des Wirkens und der Erinnerung zu beschauen.
Die Paraden des Todes sind nicht das, was ich liebe
, pflegte er zu sagen, doch um so mehr die Paraden des Lebens. Deshalb packt er die beiden Enkelkinder,
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