Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
empfand auch in dieser Situation für Herder so viel Hochachtung, daß die Satire wohl nicht direkt auf ihn gemünzt war. Allerdings ist zu bedenken, daß Goethe auch Personen, die er schätzte, nicht verschonte, wie die Farce »Götter, Helden und Wieland« beweist. Goethe hatte stets betont, seine Figuren besäßen Eigenschaften, die wenn nicht erfunden dann aus mehreren Personen zusammengesetzt wären. Das wird auch für den Fall des »Satyros« gelten. Etwas von Herder wird wohl in diesem skurrilen Waldteufel stecken, der in satirischer Verzerrung wie ein Naturphilosoph Herderscher Prägung redet:
Vernehmet wie im Unding / Alles durch einander ging. /
〈...〉
/ Wie im Unding das Urding erquoll / Lichts macht durch die Nacht scholl / Durch drang die Tiefen der Wesen all / Daß aufkeimte Begehrungs schwall / Und die Elemente sich erschlossen / Mit Hunger in einander ergossen / All durchdringend all durchdrungen.
Der bocksbeinige Satyr beschimpft seinen Wohltäter, den Einsiedler, während er sich füttern läßt, und wirft sich in die Brust:
Mir geht in der Welt nichts über mich, / Denn Gott ist Gott und ich bin ich.
Er lehrt nicht nur den
Begehrungsschwall
als Weltprinzip
,
er praktiziert ihn auch, indem er ein zartes Mädchen umgarnt, die auf den Namen »Psyche« hört (vor allem deshalb hat man die Satire auf Herder bezogen, dessen Verlobte bei den Empfindsamen von Darmstadt ja auch diesen Namen trug). Wenn er mit Lendenschurz verführerische Reden hält, gelingt es ihm, das Volk eine Weile lang in seinen Bann zu ziehen. Und er redet auch wirklich mit einem Pathos und einer Ergriffenheit, als wäre ein höherer Geist in ihn gefahren. Er schwärmt von der
aufkeimenden Natur
, die man im All und in sich selbst spüren kann, man solle den
fremden Schmuck
ablegen und endlich
der Erde genießen
. So hätte Goethe auch Prometheus sprechen lassen können, oder einen anderen Propheten. Der Satyr aber wird bald entlarvt und davongejagt, doch bleibt der Eindruck, daß religiöse Begeisterung und religiöser Wahn dicht beieinander liegen. In dieser Angelegenheit ist Fälschung und Original schwer zu unterscheiden. Die Satire allerdings führt aus dem Labyrinth der Täuschbarkeit hinaus. Am Ende ist, anders als im wirklichen Leben, alles klar. Hier die Betrogenen, dort der Betrüger.
Sich das
Titanengewand
zuschneiden, so hatte Goethe diese teils pathetischen teils satirischen Versuche über Begeisterung und Verführung genannt. Was ein richtiger Prophet ist, der hat einen selbstgewissen Zugang zu einer höheren Welt, der bringt den Menschen eine Lehre, die dem Leben Orientierung gibt. Der Prophet kann sagen: Du mußt dein Leben ändern! Nicht so der Poet. Der gibt nur sich selbst. Doch auch das kann unerhört sein und kann fortleben im Gedächtnis der Menschheit.
Anmerkungen
Neuntes Kapitel
»Dichterischen Gebrauch machen vom eigenen Leben«.
Wege zum »Werther«. Welche Stürme? Lebensekel. Werthers Liebe
und die Schicksale der Einbildungskraft. Was uns fehlt, wenn wir uns
selbst fehlen. Werthers Wirkung.
Im Februar 1774 beginnt Goethe mit der Niederschrift des »Werther«, ohne ausgefeiltes Konzept und ohne Entwürfe. Er schreibt in einem Zug, alles liegt offenbar wohlgeordnet im Kopf bereit. Drei Monate später ist er fertig.
Es ist die Lebensepoche, von der es in »Dichtung und Wahrheit« heißt:
Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos
. Themen, Motive flogen ihm zu. Gelegenheitsgedichte, Satiren und Schnurren wie das »Jahrmarktsfest zu Plundersweilern« oder das »Fastnachtsspiel vom Pater Brey« und »Satyros oder der vergötterte Waldteufel«. Von diesen Arbeiten machte er kein Aufhebens,
nur wenn ich es mir und andern in geselligem Kreise froh wieder vergegenwärtigte, erneute sich die Neigung daran.
Daß der »Götz« über den engeren geselligen Kreis hinausgedrungen war und in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt hatte, daß Goethe plötzlich zu einer bedeutenden Figur im literarischen Leben geworden war, änderte nichts an seiner Produktionsweise. Es bleibt bei der spontanen
Lust am Hervorbringen
. Er wendet sich auch großen Plänen zu, arbeitet gleichzeitig an Dramen über Mohammed, Prometheus und Faust. Und doch hat Goethe das Gefühl, daß er mit seinen Werken noch nicht nahe genug am eigenen Leben ist, daß sie noch nicht als dessen eigentliche
Früchte
gelten können. Das schreibt er Ende 1773, kurz bevor er mit dem »Werther« beginnt, jenem Werk, von dem es in »Dichtung und
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