Goethe
ergreift, – dann, aber auch nur dann wächst der Seele die Kraft an, das Wirkliche in das Allgemeine hinaus zu empfinden, im Menschen das Leben, im Schicksal die Welt, und von jedem Fleck Erde aus den Kosmos zu umarmen.
»Heraus mit der Sprache!« fuhr der Alte bös auf; »woher wissen Sie, daß die Padrona Margherita heißt?«
Heiter kehrte Goethes Blick von der Brücke zurück; gemütlich setzte er das Bein vom Boot herab. Es war ihm, als ob beide Füße nun, anstatt auf der Erde zu ruhen, auf einem Seil zwischen zwei Kirchtürmen gingen, aber, weil sein Auge dabei nichts zu sehen und zu messen versäumte, sicher gingen wie auf ebener Erde. »Und die alte Frau«, fügte er waghalsig lächelnd hinzu, »die vorhin vom obersten Söller herabgerufen hat, ist wohl die Mutter der Signora Margherita?«
Wütend: » Sissignore! «
»Und das junge Mädchen eure Tochter und heißt, sagen wir einmal, Marietta?«
»Nein, Maria!«
»Aber Ihr nennt sie Marietta?«
Wild, zur vollen Gestalt auf erhob sich der Alte aus dem Boot. Er hatte keinen Hut auf dem Kopfe. Dennoch fuhr ihm der rechte Arm in reißendem Zwang an den Kopf, als wollte er den Hut ziehen. Als die Hand leer zurückkehrte, schwenkte er sie schamhaft tief unters Kinn hinab, ließ den entsetzten Schädel in die Brust fallen, und sagte leise: » Capisco! Sie sind von der Fischerinnung und bringen Nachricht vom Matteo! Er ist also – hin?«
»Ihr meint den Bräutigam Eurer Tochter?«
»Er ist Dienstag abends mit den Marsili und Perotti ausgefahren, sollte vorgestern abend da sein, – in der Nacht vorher aber war Sturm!« Und kreideweiß auf einmal und schlotternder Knie, mit klappernden Kiefern bettelte er stöhnend: »Lieber schnell, Herr! Sagen Sie: ist er hin?«
Als ob er vom Seil auf die Erde zurückstiege, wirr, blickte Goethe rundum. Also so nahe ist das menschliche Schicksal? »Ich weiß nichts.« Ganz leise sprach er. »Gar nichts! Ich kam nur durch Zufall vorbei da. Sah euch, Eure Leute, Euer Haus; wirklich, ich weiß nichts! Aber« – und als ob ihn Fieber jäh überfiele, reckte er sich auf – »hättet Ihr's am Ende lieber, daß er – nicht wiederkommt?«
Der Alte, die Pfanne mit dem Teer in der Hand, erstarrte zu Stein. Schnell darauf, so, wie wenn der Sturm mit wilder Tatze eine Hütte aus dem Boden reißt und in seinen Fingern zu Krach und Splitter zermalmt, tanzten alle Glieder an seinem Leibe. Endlich, zähneknirschend, schlug er die Arme um die Brust, als ob er die brechende Hütte im letzten Augenblick noch retten wollte, und stieß speiend ein einziges Wort heraus: »Tagdieb!«
»Ich möchte tauchen lernen!« rief Goethe, als ob er nicht gehörte hätte, unwillkürlich; seine Füße gingen wieder auf dem Drahtseil. »Ja, tauchen!«
Mit Anstrengung, die ihm den Schweiß aus der Stirne riß, brachte es der Alte dazu, sich in das Boot zurückzuknieen. Rutschend strebte er nach der Ruderbank hin. Aber die Ruderbank war schon kalfatert. Wie ein angeschossenes Tier, gewunden, kroch er zum Bug hinüber.
Schließlich kratzte er eine Handvoll Morschholz aus dem Bug.
»Habt Ihr gehört: tauchen möchte ich lernen?«
Jetzt war es dem Alten gelungen, die entblößte Seele wieder zu verhüllen; die Teerpfanne hatte er zurück in die Hand geholt. »Schwindler!« sagte er kalt.
»Ich bin bis vor kurzem ein armer getretener Hund gewesen!«
»Die Schauspieler verdienen's nicht anders.«
»Ich bin kein Schauspieler!«
»Improvisatore?«
»Auch nicht!«
»Indovinatore?«
»Ein Dichter, sagt man.«
»Und die Dichter lügen, sagt man!«
»Wie die Kalfaterer. Sie streichen ein Leck mit Pech zu, ohne Holz darunter genagelt zu haben. Die beste Barke geht flöten.«
» Allora « – dieser Zickzackzug von Humor im entgeisterten Gesicht war zum Fürchten! – » siamo fratelli? «
»Wenn ich Euch sagen könnte«, antwortete Goethe geistesgegenwärtig rasch, von neuem setzte er das rechte Bein auf das Boot, »Matteo treibt gesund von Nordosten herab, oder er treibt nicht von Nordosten herab, sondern auf dem Grunde des Meeres, – kurz: so oder so, aber wenn ich Euch damit helfen, Euch den Berg von der Brust wälzen könnte, – dann redete ich ohnedies anders! Denn es ist bitter, jemanden leiden zu sehen, dem man nur sagen kann: ich möchte tauchen lernen, tauchen hinab in die allertiefste Tiefe, und: ich bin ein Dichter. Da komme ich vom Norden herab vor dies Haus, das ich hunderttausendmal im Traum schon gesehen habe, und erkenne es im ersten
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