Götterdämmerung: Das Todes-Labyrinth (German Edition)
bevor die Gestalt ihres Mannes in den Schatten eintauchte, gab der Boden unter ihren Füßen plötzlich nach und sie fiel.
Annie stürzte und erwachte im nächsten Moment von ihrem eigenen Schrei. Es dauerte endlose Sekunden, bis sie begriff, dass sie geträumt hatte, aber selbst dieses Wissen vermochte sie nicht zu trösten. Was sie verstörte, war nicht die Erinnerung an den Albtraum, der sie seit dem Verschwinden der Nemesis quälte, sondern die Worte, die noch immer in ihrem Bewusstsein widerhallten: Er ist tot. Vielleicht hatte sie das Unfassbare ja selbst in Gedanken ausgesprochen, aber daran glaubte Annie nicht wirklich. Es war eine fremde Stimme gewesen, die sie gehört hatte, vielleicht im Moment des Erwachens. Dass sie sich nicht konkret daran erinnern konnte, änderte nichts an der Gewissheit, die weder Trost noch Hoffnung zuließ: Sie würde Henry niemals wiedersehen …
Das Schloss am Meer
Die Morgensonne sandte bereits ihre Lichtspeere durch das Vestibül, als der Dichter, noch immer ein wenig benommen von Nacht und Traum, die Treppe zum Erdgeschoss hinabstieg. Verschlafen blinzelnd öffnete er die Tür zum Salon und registrierte zunächst eher unbewusst, dass etwas anders war als sonst.
Seltsamerweise war es das zweite Gedeck auf der Frühstückstafel, das zuerst seinen Blick auf sich zog, und nicht die eigentlich unübersehbare Präsenz eines weiteren Gastes.
Der Fremde – ein klein gewachsener, dunkelhaariger Mann – stand am Fenster und schien so in seine Betrachtungen vertieft, dass er sein Eintreten wohl gar nicht bemerkt hatte. Der Dichter beschloss, es dabei zu belassen; als Freund fester Gewohnheiten widerstrebte es ihm ohnehin, so früh am Morgen und obendrein mit nüchternem Magen neue Bekanntschaften zu schließen.
Also nahm er ohne weiteren Aufhebens Platz und bedeutete Carlo, dem schattenhaften Faktotum des Hauses, seines Amtes zu walten. Trotz seines empfindlichen Magens legte er Wert darauf, seinen Morgenkaffee frisch zubereitet und entsprechend heiß serviert zu bekommen. Die Wartezeit nahm er gern in Kauf, gab sie ihm doch Gelegenheit, seine Gedanken zu sammeln und Pläne für den Tag zu schmieden.
Da der Tagesablauf des Dichters stets der gleiche war, waren diese Pläne jedoch weniger praktischer Natur als vielmehr seinen Schöpfungen gewidmet. Die Vorbereitungen für jedes neue Projekt mussten mit äußerster Präzision erfolgen, denn anders als Worte ließen sich einmal erschaffene Strukturen nicht mit einem Federstrich korrigieren. Dass er sich weiterhin als Dichter verstand, war eher der Macht der Gewohnheit geschuldet; tatsächlich konnte er sich kaum erinnern, wann er die letzte Zeile zu Papier gebracht hatte. Es musste eine Ewigkeit her sein, dass ihm Euterpe und Erato den Rücken gekehrt hatten …
»Jegliches hat seine Zeit, René«, sagte der Mann am Fenster in diesem Moment und wandte sich um. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, was angesichts der geringen Helligkeit im Raum durchaus seltsam anmutete, doch es war nicht sein Äußeres, das den Dichter innerlich zusammenzucken ließ.
René. Wie lange war es wohl her, dass jemand den ungeliebten Vornamen in seiner Anwesenheit benutzt hatte? Und woher kannte ihn der Fremde überhaupt, dass er ihn in dieser Vertraulichkeit ansprach? Er selbst konnte sich jedenfalls nicht erinnern, dem kleinen Mann – ob mit Sonnenbrille oder ohne – jemals begegnet zu sein. Natürlich hatte er eine Menge Leute gekannt, damals , doch das war in einer anderen Zeit gewesen und, in gewisser Weise, auch in einem anderen Leben …
»Entschuldigung«, sagte er laut, »aber falls wir uns bereits vorgestellt worden sind, muss ich um Nachsicht für meine Vergesslichkeit bitten.« Er lauschte dem Klang seiner Worte nach und wunderte sich, wie fremd ihm die eigene Stimme geworden war.
»Keine Sorge, mein Freund«, erwiderte der kleine Mann mit einem feinen Lächeln. »Unsere Bekanntschaft ist eher einseitiger Natur, obwohl es ein Ort wie dieser war, an dem du uns einmal sehr nahe gekommen bist. Du wolltest uns rufen, aber letztlich fehlte dir dann doch der Mut.«
»Ich verstehe nicht«, stammelte der Dichter verunsichert. Er ahnte, worauf der unbekannte Gast anspielte, aber alles in ihm wehrte sich dagegen.
»Das war keineswegs ein Vorwurf«, erklärte der Besucher besänftigend. »Deine Bedenken waren berechtigt und die Begründung überaus treffend: Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir gerade
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