Goetterdaemmerung - Roman
Büchern dargestellten Empfindungen ebenso glühend nachzufühlen wie diese beiden schwärmerischen Seelen. Giulia brachte ihnen Byrons düsteren «Manfred» nahe sowie die Noten von Schumann, die sie immer schon hatten studieren wollen.
Sie deklamierte Passagen für sie daraus, wie etwa die Anrufung Astartes – «Hör mich – hör mich! Astarte! meine Geliebte! – sprich zu mir! Ich litt so viel – ich leide noch so viel!» 74 – und die Szene zwischen dem Bruder und dem Geist seiner Schwester. Da sie von ihrer englischen Mutter erzogen worden war, hatte sie einige Zeit in London am Theater gespielt, und ihre Gesten und ihr Ausdruck waren nicht weniger bewundernswert als ihr Gesang; häufig sprach sie von bestimmten Dramen aus der Shakespeare-Zeit, sie zitierte Fords «Das gebrochene Herz» 75 , «Der weiße Teufel» 76 von Webster als Meisterwerke, sodass sie in Hans Ulrich und Christiane den Wunsch erweckte, diese kennenzulernen.
An einem Nachmittag gab sie dann ihren Bitten nach, brachte ihnen die Bände und bot ihnen einige der schönsten Szenen aus Marlowes «Der Jude von Malta» 77 , aus Fletchers «Valentinian» 78 und Jonsons «Volpone» 79 . Sie war mannhaft und von kühnem Geist und liebte diese außergewöhnlichen Stücke voller Blut, Schrecken, Degen, Aufruhr und Schreien, die ihr Herz mit tosender Freude erfüllten. Die Lesung dauerte länger als erwartet, denn jedes Mal, wenn Giulia ans Aufhören dachte, begehrten Hans Ulrich und seine Schwester auf, bis zu dem Augenblick, in dem sie schließlich übereinkamen, dass «die jetzt gelesene Szene» die letzte sei. Sie bedachte die beiden mit einem Lächeln und einem grausamen Blick und sagte zu ihnen: «Einverstanden! Ihr wollt es so!»
Und sich langsam und genüsslich in Szene setzend, ganz als Frau, die sich mit etwas abgefunden hat, und ohne den Titel, sondern nur den Autor, Ford 80 , zu nennen, begann sie:
Giovanni
Komm Schwester, leih die Hand; wir gehen
zusammen.
Ich hoff, du wirst nicht rot? Das musst du nicht.
Ist keiner da. Nur du und ich.
Annabella
Was ist?
Giovanni
Vertraue mir, denn ich will dir nichts Böses.
Annabella
Böses?
Giovanni
Ganz sicher nicht. Wie steht’s mit dir?
Annabella, beiseite
Ich hoffe, er ist nicht verrückt.
Gut, gut, Bruder.
Giovanni
Glaub mir, doch ich bin krank; ich fürcht so
krank
Es wird mein Leben kosten
Annabella
Barmherzigkeit verbiete es! So ist es nicht,
hoff ich.
Giovanni
Ich denk, du liebst mich, Schwester
Annabella
Ja. Weißt du doch.
Giovanni
In der Tat. Ich weiß es. Du bist schön.
Sie hatte dieses Präludium mit leiser Stimme und in einem kühlen Ton rezitiert, die ein Geheimnis erahnen ließen. Dann hielt die Belcredi kurz inne. Ein dunkles Rot hatte sich auf Hans Ulrichs Tatarengesicht abgezeichnet, seine Augen glänzten, mit vorgestrecktem Kopf und klopfendem Herzen erwartete er begierig jeden Satz des Dialogs: Ihm gegenüber machte Christiane mit bleichen Wangen, den Mund halb geöffnet, ein ganz erschrecktes Gesicht. Da erhob sich die Stimme der Belcredi mit folgenden Worten:
Giovanni
Oh Annabella, ich bin so zerstört
Von meiner Liebe, und im Angesicht
Der gnadenlosen Schönheit deines Körpers
Verstimmt sich meine Lebensharmonie.
Nun bin ich ruhelos. Stößt du nicht zu?
Annabella
Verbietet es, ihr ahnungslosen Ängste
Denn wenn es wahr ist, wär ich besser tot.
Giovanni
Wahr, Schwester. Es ist keine Zeit zum
Scherzen.
Zu lange unterdrückte ich die Flammen
Die im Verborgenen mich fast verbrannten.
So viele stille Nächte habe ich
Mit Seufzern und mit Klagen zugebracht
Prüfte die Gedanken, hasste mein Geschick
Ergründete die Gründe meiner Liebe
Befolgte, was scheinheilge Tugend rät
Doch alles nutzlos. Es ist mir bestimmt:
Du musst mich lieben oder ich muss sterben.
Annabella
Giovanni, bist du ehrlich?
Giovanni
Lass den Blitz
Sogleich mich treffen, wenn ich mich verstelle.
Annabella
Du bist mein Bruder, Giovanni.
Giovanni
Und du
Bist meine Schwester, Annabella. Weiß ich.
Nun pausierte Giulia und hob den Kopf, und es entstand eine lange Stille, in der man eine Stecknadel hätte fallen hören. Christiane lag ganz weiß mit brechenden Augen hingestreckt in ihrem Sessel; dicke Tränen quollen unter ihren Wimpern hervor. Er blickte grimmig und gequält, in seinen Zügen war etwas Verzweifeltes, und schien wie vom Blitz getroffen. Welches Geheimnis ihrer verängstigten Seele hallte in den Schreien von Giovanni und Annabella
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