Götterfluch 1 - Der Geraubte Papyrus
unterrichtet, was sich in Sais so tut.«
»Außer bei dem furchtbaren Mord an den Übersetzern, nicht wahr?«
»Reden wir nicht mehr von dieser schrecklichen Geschichte!«, antwortete Menk gereizt.
»Mir fällt es aber sehr schwer, nicht daran zu denken!«
»Wir haben beide nichts mit dieser Sache zu tun. Die Ordnungshüter kümmern sich darum, man wird den Mörder festnehmen und verurteilen. Zum Glück wahren die Behörden Stillschweigen, sodass die Stadt nicht in unbegründeten Aufruhr gerät.«
»Was, wenn es nur darum ginge, die Wahrheit zu verschleiern?«
»Diese Angelegenheit betrifft uns nicht, meine liebe Nitis. Es ist Sache der Obrigkeit, sie zu bereinigen. Bitte hört auf die Stimme der Vernunft und bleibt bei Euren Aufgaben.«
»Das habe ich auch vor.«
»Dann bin ich ja beruhigt! Wann essen wir zusammen zu Abend?«
»Nicht in den nächsten Tagen. Ich habe sehr viel zu tun. Ich muss in verschiedenen Archiven forschen, um einige Rituale neu zu gestalten und ihnen die Ausdruckskraft des Alten Reichs zurückzuverleihen.«
»Das ist eine wunderbare Arbeit«, sagte Menk anerkennend, »darüber dürft Ihr aber nicht vergessen zu leben. Diese alten Schriftstücke können Eure Schönheit nicht angemessen würdigen.«
»Ich wünsche Euch eine gute Nacht, Menk.«
»Ich Euch auch, Nitis.«
Der Leiter der Feste von Sais machte sich auf den Heimweg.
Die junge Frau blieb ratlos zurück und konnte zu keinem Schluss kommen. War Menk einfach nur ein ganz gewöhnlicher Verführer, hatte er ihr mit zweideutigen Worten drohen wollen, oder gehörte er auch irgendwie zu der Verschwörung? Er kannte jeden in Sais, ging im Palast ein und aus und verkehrte mit den mächtigsten Männern. Da er einen ausgezeichneten Ruf genoss, hatte er nur Freunde.
Nitis las im Haus des Lebens die Papyrusrollen, die sich mit der Mathematik beschäftigten, in der Hoffnung, dort den Schlüssel für das geheime Schriftstück zu finden. Tatsächlich hatte es einmal Zeichenspiele gegeben, mit denen sich die wahre Bedeutung von Schriftstücken verschleiern ließ, die das Wesen der Götter betrafen.
Doch diese Nachforschungen waren schwierig und langwierig, und es war keinesfalls sicher, dass Nitis die Aufgabe lösen konnte. Inzwischen setzte Kel in Naukratis sein Leben aufs Spiel. Dass er Griechisch beherrschte, war natürlich ein großer Vorteil, aber würden Demos und Starrkopf nicht vielleicht versuchen, ihm eine tödliche Falle zu stellen?
Bei der Vorstellung, der junge Schreiber könnte aus ihrem Leben verschwinden, verlor Nitis die Fassung: Ihn nicht mehr sehen, nicht mehr seine Stimme hören, nicht mehr Hoffnungen und Ängste mit ihm teilen zu können … Sie konnte nicht weiterarbeiten, rollte den Papyrus langsam zusammen und legte ihn in das Regal zurück.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Wahibra besorgt.
Die junge Frau fuhr hoch.
»Ach so – Ihr seid es! Was wollt Ihr denn?«
»Ich habe dich gesucht, weil ich dir jemand vorstellen möchte, einen Fremden – er ist Grieche und auf der Suche nach Wissen, das er in seiner Heimat nicht finden konnte. Er bittet um unseren Rat, und ich wüsste gern, was du von ihm hältst.«
»Wie heißt er?«
»Pythagoras.«
33
P ythagoras, ein Mann mit hoher Stirn und ernster Miene, trug ein langes weißes Gewand und verneigte sich ehrerbietig vor dem Hohepriester und Nitis.
»Ich danke Euch, dass Ihr mich empfangt. Ich komme aus dem Palast von Pharao Amasis, der mir eine lange Unterredung gewährt hat, weil er wissen wollte, ob ich ihm gehorcht habe. Ich war tatsächlich in Heliopolis, der heiligen Stadt von Re, dem Gott des himmlischen Lichts, und dann in Memphis, der Stadt von Ptah, dem Herrn des Wortes und der Handwerker.«
»Seid Ihr auf die Probe gestellt worden?«, fragte Wahibra.
»O ja, ich wurde nicht geschont, aber das bedaure ich nicht.«
»Ihr Griechen seid noch immer wie die Kinder! In Euren Tempeln gibt es keine Greise, und Ihr wisst nichts von der echten alten Überlieferung. Deshalb besteht Eure Weltendeutung auch nur aus dem Lärm von leeren Worten.«
»Ich weiß, Hohepriester, und ich habe – wie auch einige meiner Landsleute – begriffen, dass Ägypten die Wiege der Weisheit ist. Ich wurde lange abgelehnt, und man hat mir immer wieder geraten, nach Hause zu gehen. Nur meiner Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass ich die Priester von der Glaubwürdigkeit meiner Suche überzeugen konnte. Hier und nirgendwo anders unterrichtet man die Wissenschaft von
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