Goettersterben
genaueren Blick. Dieses Mal stieß er ihn nicht nur derb gegen den Rumpf des Schlachtschiffes, sondern ließ auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass er ihn nötigenfalls mit Gewalt auf das Schiff hinaufschleifen würde.
Der Aufstieg erwies sich als leichter, als er zu hoffen gewagt hatte. Das Schiff war neu und seine Planken glatt und frisch lackiert, und die Bordwände stiegen absolut lotrecht und hoch wie ein Berg vor ihnen auf, aber Abu Dun und er waren nicht nur geschickte Kletterer, sondern besaßen auch eine Menge Übung und sehr scharfe Augen. Ihre Finger- und Zehenspitzen fanden selbst da noch sicheren Halt, wo andere nicht einmal mehr einen Spalt gesehen hätten, und so stellte der Aufstieg kein großes Problem für sie dar – oder hätte es nicht getan, hätte die EL CID nicht genau in dem Moment eine weitere Breitseite abgefeuert, in dem sie sich zwischen dem ersten und zweiten Geschützdeck befanden.
Andrej spürte es, einen Sekundenbruchteil, bevor es geschah; eine plötzliche Welle der Anspannung, in der sich Todesangst mit Vorfreude und fast emotionsloser Distanziertheit mischten, und er wusste sofort, was dieses Gefühl zu bedeuten hatte, sodass es ihm gelang, sich im letzten Moment und mit verzweifelter Kraft festzuhalten. Dann explodierte die Welt zum zweiten Mal in einer Woge aus Weiß und Hitze, nur dass die sengenden Flammen diesmal nicht über ihnen aufloderten, sondern überall rings um sie herum. Ein glühender Blitz aus purem, alles verzehrendem Schmerz explodierte in seinem linken Bein, und es stank nach verbranntem Leder und nur einen Sekundenbruchteil später nach schmorendem Fleisch. Andrej schrie vor Schmerz, ohne selbst auch nur den mindesten Laut zu hören, und klammerte sich weiter mit verzweifelter Kraft fest.
Es hätte nicht gereicht, hätte Abu Dun nicht im letzten Moment zugegriffen und ihn so lange gestützt, bis der Schmerz wieder auf ein (für ihn, jeden anderen an seiner Stelle hätte es vermutlich umgebracht) erträgliches Maß hinabgesunken war und er sich wieder aus eigener Kraft festklammern und weiterklettern konnte; deutlich langsamer als bisher und nur die Hände und den rechten Fuß zu Hilfe nehmend. Sein linkes Bein hing noch immer nutzlos und taub herab und pochte vor Schmerz. Andrej wagte es nicht, an sich herunterzusehen. Er wusste auch so, dass er eine Spur aus Blut hinter sich her zog. Es würde lange dauern, bis er das Bein wieder einigermaßen belasten konnte; auf jeden Fall weitaus länger, als Abu Dun und er brauchten, um das Deck der EL CID zu erklimmen.
Das Schiff bebte und zitterte und schüttelte sich immer heftiger, und noch bevor sie die Reling erreichten, feuerten die Geschütze unter ihnen erneut; diesmal nicht in einer einzigen verheerenden Salve, sondern einzeln und so schnell, wie die Artilleristen ihre Kanonen nachladen konnten.
Andrej streckte die Hand nach der Reling aus, versuchte sich in die Höhe zu ziehen und musste sich selbst eingestehen, dass seine Kraft nicht mehr dazu reichte. Sein Bein schmerzte und blutete noch immer, und aus irgendeinem Grund kehrten seine Kräfte nicht annähernd so schnell zurück, wie er es gewohnt war. Vermutlich wäre es ihm irgendwie gelungen, auf die EL CID zu kommen, aber er war Abu Dun dankbar, als der Nubier, kaum dass er sich selbst über die Reling geschwungen hatte, herumwirbelte und nach seinem Arm griff. Ohne viel Federlesens riss er ihn zu sich hoch, und Andrej federte den Sprung ganz instinktiv ab, schrie noch einmal (und noch immer ohne den geringsten Laut zu hören) vor Schmerz auf und sank auf die Knie, als sein verletztes Bein einfach unter dem Gewicht seines Körpers nachgab. Tränen schossen ihm in die Augen und machten es ihm fast unmöglich, etwas zu sehen, aber er spürte die Gefahr und griff schnell nach dem Schwert an seinem Gürtel.
Diesmal griff Abu Dun so fest zu, dass es wehtat. Andrej schlug seinen Arm mit einer zornigen Bewegung beiseite, stand auf und zog die Waffe – und erstarrte. Sie waren nicht allein. Mindestens ein Dutzend Soldaten umstanden sie in einem unregelmäßigen Halbkreis und zielten drohend mit ihren Bajonetten auf Abu Dun und ihn – und damit zugleich auch mit den Musketen, an denen sie befestigt waren.
Andrej bedachte blitzartig ihre Chancen. Er konnte stehen, aber sein Bein würde vermutlich schon wieder unter ihm einknicken, sollte er es wagen, einen Schritt zu tun, und Abu Dun hatte seine Waffe bisher noch nicht einmal gezogen. Es waren zu viele Männer –
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