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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hundert Weiße zu Tode gefoltert«, sagte Lucrecia an einem Morgen Anfang April, drei Monate nach Ausbruch des Aufstandes.
    Cendrine legte das Buch beiseite, aus dem sie das heutige Morgengebet ausgewählt hatte. Sie bemühte sich, jeden Tag ein anderes zu sprechen und es von den Mädchen wiederholen zu lassen. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dein Bruder dir etwas Derartiges erzählen würde.«
    »Hat er aber!« ereiferte sich Lucrecia. »Alle wurden zu Tode gefoltert. Manchen haben sie mit Fackeln die Haut vom Gesicht gebrannt, und anderen hat man –«
    »Es reicht, Lucrecia!« fuhr Cendrine sie an, die bemerkte, daß die feinfühligere Salome kreidebleich geworden war. Daß Salome nichts von alldem wußte, war ein weiterer Hinweis, daß Lucrecia das alles nur erfunden hatte. Oder aber, und das schien Cendrine fast am wahrscheinlichsten, einer der Dienstboten hatte ihr davon erzählt. Madeleine hatte bis zur Beendigung der Kämpfe alle persönlichen Gespräche mit den Eingeborenen untersagt, die über einfache Anordnungen hinausgingen; kein Wunder also, daß Lucrecia Adrian als Sündenbock vorschob.
    »Wo hätte Adrian so etwas hören sollen?« fragte Cendrine. »Dein Bruder ist taub, Lucrecia, hast du das vergessen?«
    Das Mädchen hob trotzig das Kinn. »Er fährt immer noch nach Windhuk, trotz des Aufstandes.«
    »Ist das wahr?« Cendrine hoffte, daß die Zwillinge die Sorge in ihrer Stimme nicht bemerkten. Sie und Adrian hatten seit der Verbrennung des Weihnachtsbaumes nicht mehr unter vier Augen gesprochen. Sie wich ihm aus, und ihr war klar, daß ihm das sehr wohl bewußt sein mußte.
    »Adrian besucht Freunde in Windhuk«, sagte Salome. »Mutter verbietet es ihm, aber er tut es trotzdem.«
    »Wahrscheinlich ist ihm genauso langweilig wie uns«, fügte Lucrecia hinzu. »Seitdem die Soldaten hier waren, passiert gar nichts mehr.«
    Cendrine zwang sich zu einem Lächeln. »Also langweilig ist euch. Nun gut, ich denke, dem können wir Abhilfe verschaffen. Nehmt eure Mathematikhefte und –«
    »Fräulein Muck?« unterbrach Lucrecia sie.
    »Ja?«
    Die Mädchen wechselten einen verstohlenen Blick. Salome zuckte mit den Schultern, aber Lucrecia hob nach kurzem Zögern entschlossen das Kinn.
    »Wir würden Ihnen gerne etwas zeigen«, sagte sie zu Cendrine.
    »Und was wäre das?«
    »Ein … Geheimnis«, sagte Salome stockend.
    Warum nur war jeder in diesem Haus so versessen auf Geheimnisse? »Gut«, sagte sie widerstrebend. »Vorausgesetzt, es hat Zeit bis heute nachmittag.«
    »Mhmh«, brummte Lucrecia kopfschüttelnd. »Dann ist es zu spät.« Noch einmal schaute sie zu ihrer Schwester hinüber, als wolle sie sich absichern. »Wir müssen es Ihnen jetzt zeigen. Jetzt sofort.«
    Salome nickte, aber sie wirkte nicht ganz so überzeugt wie Lucrecia. »Sonst ist es nämlich schon vorbei.«
    Cendrine hob eine Augenbraue. »Ihr wißt doch, daß ich es nicht mag, wenn der Unterricht unterbrochen wird.«
    »Dann werden Sie eben nie erfahren, was wir Ihnen zeigen wollten«, gab Lucrecia mit übertriebenem Schulterzucken zurück und widmete sich ihren Schulheften.
    »Und du glaubst, das würde mir später leid tun?« fragte Cendrine und unterdrückte ein Grinsen.
    »Ganz bestimmt.«
    Cendrine seufzte. »Na gut. Wenn ihr da so sicher seid.«
    Die Zwillinge sprangen von ihren Stühlen und jubelten.
    »Könnt ihr es herholen?« erkundigte sich Cendrine, ahnte die Antwort aber schon.
    Die Mädchen kicherten. »Natürlich nicht.«
    »Also, wo ist es?«
    »Draußen.«
    »Im Garten?« fragte sie zweifelnd. Seit Ausbruch der Unruhen hatte sie es vermieden, mit den Kindern ins Freie zu gehen.
    Lucrecia nickte, aber ihre Schwester stupste sie an.
    »So ungefähr«, sagte Salome zögernd.
    Cendrine fügte sich in ihr Schicksal und folgte den beiden aus dem Zimmer. Die Mädchen flüsterten miteinander, während sie ihr im Korridor vorausliefen. Hin und wieder schauten sie sich verstohlen zu ihr um. Offenbar war Salome nicht ganz so überzeugt von dem Vorhaben wie ihre Schwester. Lucrecia hatte den Plan wohl ausgeheckt.
    Sie traten durch das Hauptportal ins Freie, überquerten eilig den Kieshof und umrundeten den Südflügel. In Cendrine stieg immer deutlicher die Befürchtung auf, daß es keine gute Idee gewesen war, sich auf den Vorschlag der Zwillinge einzulassen – nicht, während irgendwo dort draußen mordende und brandschatzende Herero-Horden umherzogen.
    Im südlichen Teil des Gartens, zwischen ausgedörrten

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