Göttin des Frühlings

wäre es ihr nicht aufgefallen. Schließlich war es ihre eigene Handschrift gewesen. Sie hatte es für eine alte Notiz gehalten, die sie für sich selbst verfasst hatte, um sich daran zu erinnern, Futter oder Leckerlis oder einen anderen Hundeartikel nachzukaufen. Dann war ihr die Anrede ins Auge gefallen:
Liebe Lina,
und ihr Blick war schnell nach unten gewandert, wo stand:
Freude und Magie im Leben wünscht dir Persephone.
    Lina hatte den Zettel mit ins Wohnzimmer genommen und ihn dort gelesen. Dann dachte sie, genau wie jetzt, wie skurril es war, dass ihre und Persephones Handschrift identisch waren.
    Liebe Lina,
    die sechs Monate sind fast um. Es kommt mir vor, als wäre ich viel länger hier gewesen – die Zeit vergeht anders in deiner Welt. Bald wird Mutter nach mir rufen, und ich will sichergehen, dass du das Rezept für die Ambrosia bekommst. Unsere Kunden lieben die Zubereitung, und ich möchte nicht, dass sie enttäuscht sind.
     
    Seltsam! Mir ist aufgefallen, dass ich gerade von »unseren« Kunden geschrieben habe, aber ich betrachte sie wirklich als solche. Deine Sterblichen sind gute Leute. Sie werden mir fehlen.
     
    Nicht fehlen werden mir deine elende Katze und der grässliche sabbernde Hund, auch wenn das schwarz-weiße Biest sich letztlich doch noch dazu herabgelassen hat, bei mir im Bett zu schlafen. Und gestern hat der Hund einen Fremden angebellt, der sich mir nähern wollte, als ich am Ufer des Flusses herumtollte.
     
    Vielleicht werden sie mir also doch fehlen.
     
    Vergiss nicht, Spaß an Deinem Leben zu haben, Lina. Du bist reich gesegnet.
     
    Freude und Magie im Leben wünscht Dir
    Persephone
    Das Rezept für die Frischkäsecreme war säuberlich auf die Rückseite des Blattes geschrieben. Lina überflog es wieder einmal. Eigentlich wollte sie es nicht zubereiten, aber Persephone hatte recht gehabt, die Kunden liebten die Creme, und Lina wollte sie ebenso wenig enttäuschen.
    Sie schenkte sich Pinot Grigio nach und ließ die Flasche auf der Arbeitsfläche neben dem Tontopf stehen, den sie bereits mit glatt gerührtem Frischkäse gefüllt hatte. Sie musste nicht noch mal im Kalender nachsehen, ob an diesem Abend Vollmond war. Es reichte, einen Blick aus dem Küchenfenster zu werfen. Es gab kein Entrinnen. Ein weißer runder Ball stand leuchtend im klaren Nachthimmel.
    »Bring’s einfach hinter dich. Ist ja nicht so, dass dir das Zaubern fremd ist.« Lina holte einen Messbecher aus dem Schrank. »Und hör auf, mit dir selbst zu reden.«
    Sie legte das Rezept auf die Arbeitsfläche und begann mit den ersten Schritten, die zur Zubereitung von Ambrosia-Frischkäse nötig waren.
    Persephones Anleitung war sehr ausführlich. Beim Lesen nippte Lina an ihrem Weinglas.
    Gib Frischkäse in den hübschen gelben Tontopf – der Topf, der die Farbe von wildem Geißblatt hat. Rühre ihn glatt. (Und Lina, verwende bloß nicht diesen grässlichen kalorienreduzierten Mist, den andere nehmen. Der Geschmack grenzt an Gotteslästerung.)
    Lina musste grinsen. Persephone hatte dieselbe Einstellung zum Backen mit kalorienarmen Zutaten wie sie selbst.
    Gib 250  ml deines bevorzugten Weißweins dazu und verrühre ihn mit dem Frischkäse. Die Weinsorte selbst ist nicht so wichtig, Hauptsache, er ist nicht zu süß. (Lina, ich habe mich ziemlich an den leckeren Pinot Grigio Santa Margherita gewöhnt, den du im Kühlschrank stehen hattest. Ich hoffe, dass Mutter mir genug Zeit lässt, um deinen Vorrat aufzustocken, wenn sie uns wieder austauscht. Falls nicht, entschuldige ich mich schon jetzt für dein geplündertes Lager.)
    Lina schmunzelte. »Entschuldigung angenommen.« Bei ihrer Rückkehr war überhaupt kein Weißwein mehr da gewesen.
    Wenn du den Wein untergerührt hast, trinke den Rest aus der Flasche selbst. (Lina, unterschätze nicht die Wichtigkeit dieses Punkts.)
    Sie schenkte sich das nächste Glas Wein ein, nachdem sie eine Tasse in den Frischkäse gegeben hatte. Lina bemühte sich, ihn nicht herunterzukippen, doch sie hatte es eilig, fertig zu werden.
    Je mehr sie trank, desto leichter fiel es ihr zuzugeben, dass sich Persephone wirklich nach Spaß anhörte. Mit einem weinseligen Grinsen las Lina den Rest des Rezepts.
    Nehme die Creme in einer Vollmondnacht mit nach draußen und stelle sie unter die alte Eiche. Du weißt schon, welche ich meine. Die im Hof neben dem Brunnen. Ich habe dort ein wenig Frühlingszauber verstreut (wundere dich nicht, wenn du dort die eine oder andere Nymphe siehst, auch