Goettin in Gummistiefeln
nach vorn. Londoner sind ganz groß im Nach-vorne-Schauen. Immer am Ball bleiben, ja nicht den Anschluss verlieren.«
»Ich kenne die Londoner.« Nathaniel mustert mich trocken. »Habe selbst eine Zeit lang in London gewohnt.«
Ich starre ihn im Mondlicht mit offenem Mund an. Nathaniel und in London leben? Ich versuche vergebens, ihn mir in der U-Bahn vorzustellen, wie er sich an einer Schlaufe festhält und dabei die Metro liest. »Im Ernst?« Er nickt. »Und ich fand es furchtbar. Im Ernst.« »Aber was - wie ...«
»Ich habe ein Jahr lang als Kellner gejobbt, bevor ich mit der Uni anfing. Meine Bude lag gegenüber von einem Supermarkt, der rund um die Uhr geöffnet hatte. Andauernd brannte diese grelle Leuchtreklame. Und der Lärm ...« Er verzieht das Gesicht. »In den zehn Monaten, die ich da gelebt habe, habe ich nie wirkliche Dunkelheit erlebt und wirkliche Stille. Kein Vogelzwitschern. Keine Sterne am Himmel. Zumindest keine, die man gesehen hätte.«
Automatisch lege ich den Kopf in den Nacken und starre in den Nachthimmel. Langsam gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich sehe mehr und mehr winzige Lichtpunkte auftauchen, ganze Muster und Wirbel davon. Er hat Recht. Ich habe in London auch nie die Sterne gesehen.
»Und - wie ist‘s mit dir?« Seine Stimme holt mich auf die Erde zurück.
»Was meinst du?«
»Du wolltest mir doch deine Geschichte erzählen«, sagt er. »Wie es kam, dass du hier gelandet bist.«
»Ach ja.« Ich merke, wie ich mich sofort wieder verkrampfe. »Stimmt ja. Das wollte ich.« Obwohl er mich im Dunkeln nicht sehen kann, wende ich den Blick ab und überlege fieberhaft, so weit das nach drei Gläsern Wein überhaupt noch geht.
Irgendwas muss ich sagen. Vielleicht ja nur ganz wenig. Vielleicht kann ich ja die Wahrheit sagen und dabei die Tatsache, dass ich Anwältin war, verschweigen.
»Na ja«, stoße ich schließlich zögernd hervor. »Ich war in London. Da war diese ... diese ...«
»Schlimme Beziehung«, ergänzt er.
»Äh ... ja.« Ich schlucke. »Naja. Und als es schiefging, da bin ich in den nächsten Zug gestiegen ... und hier gelandet.«
Erwartungsvolle Stille. »Das war‘s«, füge ich lahm hinzu.
»Das war‘s?«, stößt Nathaniel ungläubig hervor. »Das war die ganze lange Geschichte?«
O Gott.
»Hör zu.« Ich blicke im Schein des Mondes zu ihm auf. Mein Herz klopft heftig. »Ich weiß, ich wollte dir mehr erzählen. Aber sind die Einzelheiten wirklich wichtig? Spielt es eine Rolle, was ich gemacht habe ... was ich war? Entscheidend ist doch, dass ich jetzt hier bin. Und dass ich gerade den schönsten Abend meines Lebens verbracht habe. Ehrlich.«
Ich kann sehen, dass er sich nicht damit zufrieden geben will. Er macht den Mund auf, um etwas zu sagen. Doch dann besänftigen sich seine Züge, und er macht den Mund wieder zu.
Plötzlich bin ich ganz verzweifelt. Vielleicht habe ich jetzt alles verdorben. Vielleicht hätte ich ihm trotz allem die Wahrheit sagen sollen. Oder mir wenigstens irgendeine blöde Geschichte über einen gewalttätigen Freund einfallen lassen können.
Schweigend gehen wir weiter. Nathaniels Schulter streift mich. Dann seine Hand. Wie zufällig berührt er die meine. Dann, ganz langsam, ergreift er sie, hält sie sanft fest.
Mein ganzer Körper zieht sich in jäher Sehnsucht zusammen, aber irgendwie gelingt es mir, ruhig weiterzuatmen. Keiner von uns sagt ein Wort. Alles ist still, bis auf das Geräusch unserer Schritte und den fernen Schrei einer Eule. Nathaniels Hand hält die meine fest und sicher umfangen. Ich kann seine Schwielen fühlen, seinen Daumen, der meinen streichelt.
Immer noch hat keiner von uns was gesagt. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt was sagen könnte.
Wir gehen die Auffahrt zum Haus der Geigers entlang und bleiben dann vor dem Gebäude stehen. Nathaniel schaut mit einem ernsten Ausdruck auf mich nieder. Ich merke, wie mir das Atmen schwerer und schwerer fällt. Es ist mir egal, ob man mir anmerkt, wie sehr ich ihn will.
Ich war ohnehin noch nie gut darin, nach irgendwelchen Regeln zu spielen.
Er gibt meine Hand frei und umfasst mit beiden Händen meine Taille. Dann zieht er mich langsam an sich. Ich schließe unwillkürlich die Augen, bereit, mich in ihm zu verlieren.
»Menschenskind!«, schrillt in dem Moment eine nur allzu bekannte Stimme zu uns herab. »Nun küssen Sie sie doch endlich!«
Ich zucke zusammen und reiße die Augen auf. Nathaniel sieht genauso erschrocken aus und weicht
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