Gohar der Bettler
die drei Kunden, deren Bedeutungslosigkeit förmlich ins Auge sprang; nur aus Routine würde er ihre Identität überprüfen und sie dann nach Hause schicken. Es stand zweifelsfrei fest, daß keiner von ihnen der Mörder war. Nour El Dine war mehr und mehr davon überzeugt - vielleicht weil er es sich von ganzem Herzen wünschte -, daß der Täter einer anderen Sphäre entstammen mußte - ein Intellektueller mit fortschrittlichen Ideen, vielleicht so etwas wie ein Anarchist. Die Aussicht, sich mit einem solchen Mörder zu messen, weckte seine Lebensgeister wieder. Er hoffte nur, sich nicht zu täuschen.
Derjenige der drei Kunden, der sich mit seiner Freundschaft zum Minister gebrüstet hatte, schrie plötzlich los: »Das kann man mit mir nicht machen! Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?« Nour El Dine schenkte ihm nur einen verächtlichen Blick; diese Typen kannte er. Im übrigen hatte er von dieser ganzen Geschichte die Nase voll und wollte sie so schnell wie möglich zu Ende bringen. Die eigentliche Untersuchung würde erst morgen beginnen. Mit ein wenig Glück würde es ihm vielleicht gelingen, den jungen Samir heute nacht noch zu treffen. Aber diese Hoffnung minderte seine Traurigkeit nicht; er verblieb in seiner imposanten, strengen Haltung und blickte mit verkrampftem Gesichtsausdruck weiterhin finster drein.
Die Tür zu dem Zimmer, in dem der Leichnam der ermordeten Dirne lag, öffnete sich, und ein etwa fünfzigjähriger Mann mit fahlem Gesicht und einer langen Nase, auf der eine Brille thronte, trat durch sie hindurch. Er trug einen zerknitterten und staubigen Tarbusch. Es war der Gerichtsschreiber.
»Ich stehe dir zu Diensten, mein Bey.«
»Setz dich dort hin«, sagte der Offizier.
Der Gerichtsschreiber setzte sich; zunächst holte er verschiedene Formulare aus einer Aktentasche, die er auf dem Tisch ausbreitete, dann einen Stift, dessen Spitze er mehrmals mit der Zunge benetzte. Auf seinen blassen Lippen waren blaue Flecken zu sehen.
»Mit wem fangen wir an?« fragte er.
»Wir werden noch ein wenig warten«, antwortete Nour El Dine, dem dieses Verhör entschieden mißfiel. »Ist der Gerichtsmediziner mit der Untersuchung der Leiche fertig?«
»Es dauert nicht mehr lange.«
»Hoffentlich!«
Nach diesem kurzen Gespräch setzte Nour El Dine wieder das Gesicht eines gereizten Menschen auf; er rauchte seine Zigarette, blickte verloren an die Decke und sah dabei aus wie jemand, der entschlossen ist, sich den Zwängen, die ihm sein schwieriges Amt auferlegt, zu entziehen. Alle Anwesenden hatten ihre Augen auf ihn gerichtet; dieses zwar teilnahmslose, aber gleichzeitig sehr bedrohliche Verhalten des Polizisten machte sie mißtrauisch: Sie wußten nicht, was es zu bedeuten hatte oder was sich dahinter verbarg. Die Mädchen hatten sich allesamt auf das Sofa gesetzt, um sich in die illusorische Obhut Set Aminas zu begeben. Diese ganze Geschichte verängstigte sie, aber der Spaß, den sie daran hatten, die Untersuchung eines Verbrechens, das sie so sehr betraf hautnah mitzuerleben, ließ sie vor Neugierde fast platzen. Nur Naila schien dieses Drama wirklich nahezugehen . Ihre Krankheit machte sie empfindlicher, verletzlicher als ihre Gefährtinnen. Sie mußte ihre Vorstellungskraft nicht besonders bemühen, um sich in die Situation des Opfers hineinzudenken. Sie bemitleidete sich selbst; in ihrer krankhaften Verzweiflung identifizierte sie sich mit der Toten und sagte sich, daß es besser gewesen wäre, man hätte sie umgebracht, als mit diesem verpfuschten Leben weiterzumachen, dem ein langsamer und schmachvoller Tod beschieden sein würde. Diese Gedanken führten dazu, daß sie ganz verstört wirkte; ihr ungeschminktes Gesicht war von einer wächsernen Blässe; ihre Augen starr und fiebrig. Von Zeit zu Zeit wurde ihr ganzer Körper von einem trockenen Husten geschüttelt. Salima, das Mädchen, das auf dem Sofa neben ihr saß, hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt und versuchte sie zu beruhigen. Akila, das jüngste Mädchen des Etablissements, hatte sich nach einem Augenblick vollkommener Niedergeschlagenheit wieder gefangen und dachte nur noch daran, endlich wieder arbeiten zu können. Trotz der Anwesenheit der Polizei und des Leichnams ihrer Kollegin im Nebenzimmer bezirzte sie die ganze Zeit über von ihrem Platz aus die drei Kunden, die man festgehalten hatte. Denen stand der Sinn aber nicht danach; das Augenzwinkern und das verführerische Lächeln Akilas erinnerten sie an eine düstere Realität,
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