Gohar der Bettler
ein äußerst scharfsinniger Mensch, Exzellenz. Ich muß um Vergebung dafür bitten, dich bisher für brutal und beschränkt gehalten zu haben.«
»Du hattest unrecht, mein lieber Yeghen«, sagte Gohar, »wenn du den Herrn Offizier für beschränkt hieltest. Seine Analyse der Situation ist sehr treffend. Dennoch würde ich gern etwas anmerken.«
»Was denn?« fragte Nour El Dine.
»Fällt ein Verbrechen ohne Motiv unter die Zuständigkeit des Gesetzes? Ist sein Wesen nicht mit dem eines Erdbebens beispielsweise identisch?«
»Ein Erdbeben hat keine vernunftmäßig nachvollziehbaren Ursachen«, antwortete Nour El Dine. »Es ist ein Verhängnis.«
»Der Mensch ist aber doch zu einem Verhängnis für seine Mitmenschen geworden«, wandte Gohar ein. »Der Mensch ist zu etwas Schlimmerem als einem Erdbeben geworden. Jedenfalls bewirkt er größere Verheerungen. Glaubst du nicht, Herr Offizier, daß der Mensch mit seinem Tun seit einiger Zeit die Schrecken der Naturkatastrophen übertrifft?«
»Ein Erdbeben kann ich nicht festnehmen«, erwiderte Nour El Dine mit komischer Trotzigkeit.
»Und die Bombe!« sagte Yeghen. »Kannst du die Bombe festnehmen, Exzellenz?«
»Schon wieder dieser Wahnsinn!« sagte Nour El Dine resigniert. »Nein, Yeghen Effendi, ich kann die Bombe nicht festnehmen.«
»Dann bezahlt man dich also für nichts und wieder nichts«, sagte Yeghen. »Mir persönlich kann es doch egal sein, ob du einen armen Mörder festnimmst. Wenn du hingegen die Bombe festnehmen könntest!«
Samir beteiligte sich nicht an dem Gespräch; die ganze Zeit über war er in seiner Haltung kalter Mißachtung verharrt. Diese ganze Versammlung schien ihn offenbar anzuwidern. Dennoch war seine Neugierde geweckt. Auch wenn er sie verachtete, so waren diese Menschen doch eine neuartige Erfahrung für ihn; etwas Ähnliches war ihm noch niemals zuvor begegnet. Er hatte zwar den Eindruck, als redeten diese Leute Blödsinn; aber auch, als täten sie es mit Absicht, um Nour El Dine zu reizen. Sie schienen sich sehr zu amüsieren. Samir sah El Kordi an, und ohne zu wissen warum, verstand er, daß zumindest dieser Bescheid wußte. Er schien Nour El Dine beinahe ebensosehr zu hassen wie er selbst. Hatte der Polizeioffizier bei ihm vielleicht schon Annäherungsversuche unternommen? Samir wandte den Kopf ab; die Scham, die er empfand, verwandelte sich in Wut.
Er stand auf.
»Was ist? Gehst du?« fragte ihn Nour El Dine.
»Entschuldige, mein Bey, aber ich muß nach Hause zurück. Mein ehrenwerter Vater erlaubt es mir nicht, lange auszubleiben.«
»Grüße die ganze Familie von mir«, sagte Nour El Dine. »Das werde ich ganz bestimmt tun«, sagte Samir in höflichem, aber scharfem Ton.
Er drehte ihnen den Rücken zu und überquerte mit hocherhobenem Kopf die Cafeterrasse.
»Ich bitte euch, meinen jungen Neffen zu entschuldigen«, sagte Nour El Dine. »Er ist äußerst schüchtern.«
»Er ist nett«, sagte Yeghen. »Wirklich nett. Aber es ist nun auch für mich Zeit zu gehen. Ich bedauere, Exzellenz, eine so gewinnbringende Unterhaltung nicht weiterführen zu können. Aber ich kann mich zugegebenermaßen vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten.«
»Es hat mich sehr gefreut, Exzellenz, deine Bekanntschaft zu machen«, sagte Gohar im Aufstehen. »Bis bald, hoffentlich.«
»Könnte ich dich noch einen Augenblick begleiten?« bat Nour El Dine.
»Mit Vergnügen«, antwortete Gohar. »Ich stehe ganz zu deiner Verfügung.«
Yeghen war bereits verschwunden. El Kordi blieb allein zurück; er schien den Aufbruch der anderen nicht bemerkt zu haben.
Yeghen unterdrückte einen Schrei und blieb stehen. Ein furchtbarer Zweifel überkam ihn und riß ihn aus seiner Erstarrung. Er fühlte plötzlich ein Brennen im ganzen Körper; es war allerdings nicht wegen der Kälte Die Kälte vermochte nicht bis in die Regionen seines Körpers vorzudringen, wo seine Angst saß. Er hielt einen Moment lang inne, dann steckte er hastig die Hand in die Tasche und holte das kleine Geldstück heraus. Mit steifen Fingern betastete er es und rieb ausgiebig daran, um seine Beschaffenheit und Härte festzustellen; aber das schien ihm nicht zu genügen. Die düstere Vorahnung, die ihn ergriffen hatte, hinderte ihn immer noch am Atmen. Er mußte sich so schnell wie möglich Sicherheit darüber verschaffen, ob das Geldstück echt war, aber wie sollte er das in dieser Dunkelheit bewerkstelligen? Er mußte es bei vollem Licht sehen.
Am Ende der Gasse stand eine
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