Goldener Bambus
Lotusblüte stand die Zeile eines klassischen chinesischen Gedichts: »Der Erde entstiegen, bleibt sie rein und edel.« Die Fremdenführerin zeigte auf den überdachten Gang, der das Haupthaus mit dem Nebenhaus verband, und sagte: »Pearl hatte den Handwerkern erzählt, dass die Kaiserinwitwe von China einen überdachten Gang in ihrem Sommerpalast hatte.«
Ich fragte mich, was Pearl gefühlt haben musste, als sie die chinesischen Vogelhäuschen überreicht bekam – ein Geschenk von Präsident Nixon, nach seiner Rückkehr aus China. Sicher war sie erfreut und unglücklich zugleich. Hatte ihr das Geschenk Hoffnung gemacht? Hatte sie weiter daran geglaubt, eines Tages in das Land ihrer Träume zurückkehren zu können? Oder hatte es bewirkt, dass sie an keine weitere Gelegenheit mehr glaubte?
Mein Blick fiel auf das Regal, in dem Pearls Bücher standen, darunter auch Dickens’ Roman, den sie bei unserer ersten Begegnung unter den Arm geklemmt hatte. Ich hätte mir das Buch geschnappt und den Deckel geküsst, wenn da nicht das Schild NICHT BERÜHREN gewesen wäre.
Im Schlafzimmer stand Caries Nähkästchen auf dem Tisch. Der Anblick katapultierte mich mit voller Wucht zurück in die Vergangenheit.
»Der Boden ist bereitet, und du willst nichts pflanzen!«, hörte ich Absalom Carie anschreien. Er wollte, dass sie ihm half, die Leute zu bekehren, die zu ihr kamen und sich für die Heilung ihrer Kinder mit westlicher Medizin bedankten. Das war noch zu der Zeit, als niemand ihm zuhörte, weil die Leute ihn für verrückt hielten. Er beschuldigte Carie und Pearl, sich keine richtige Mühe zu geben. »Christen sind nicht Christus!«, sagte er immer wieder. Um Absalom zu entkommen, flüchtete sich Carie ins Nähen. Wenn er explodierte, nähte sie einfach weiter.
Obwohl Pearl ihren Vater in der Öffentlichkeit verteidigte, hatte sie mir einmal gesagt, dass er seine Misserfolge verdiente. Die Traurigkeit ihrer Mutter lastete schwer auf ihr, besonders wenn Caries Tränen das Kleidungsstück durchweichten, das sie gerade nähte. »Absaloms Fehler sind zu groß, als dass er sie überwinden könnte«, sagte sie. »Mutter und ich scheuen davor zurück, ihm zu helfen.«
36 . Kapitel
H
ätte ich die schwere Tasche nicht getragen, hätte ich nicht geglaubt, auf amerikanischem Boden zu gehen. Es war früher Abend. Die Führung war zu Ende, und die anderen Besucher waren gegangen. Der Himmel wurde langsam dunkel und die Luft frisch. Die Bäume und die Erde flossen zu schattenhaftem Grau zusammen. Ich war sicher, dass Pearl das Haus mit dem Land drumherum gekauft hatte, weil es sie an Chinkiang erinnerte. Es war das China gewesen, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbrachte.
Wie oft war sie den Pfad entlanggegangen, auf dem ich jetzt stand?
Als ich das Haus verließ, war es beinahe dunkel. Ich begab mich auf die Suche nach Pearls Grab, konnte aber fast nichts mehr sehen und bewegte mich wie ein Geist auf dem kaum noch erkennbaren Weg. Eine Nebenstraße führte mich zurück zur Pension, in der ich übernachtete.
Die Gastwirtin, eine Frau mittleren Alters, fragte, ob ich eine schöne Zeit gehabt hatte.
»Ich konnte Pearls Grab nicht mehr besuchen«, sagte ich ihr.
»Sie sind sicher direkt daran vorbeigegangen«, erwiderte sie. »Es ist leicht zu übersehen.«
»Es gab kein Hinweisschild, oder habe ich das auch übersehen?« Seit ich in den Vereinigten Staaten war, wusste ich, dass Amerikaner gut im Ausschildern waren.
»Nun, Pearl Buck wollte es so.« Die Dame zog ihren Schlüssel hervor und führte mich zu meinem Zimmer. »Soll ich Ihnen für morgen früh ein Taxi bestellen? Um wie viel Uhr geht denn Ihr Zug oder der Flug?«
»Ich reise nicht ab, ohne Pearls Grab gesehen zu haben«, erwiderte ich.
Die Dame sah mich fragend an.
»Ich habe am Grab etwas zu erledigen«, versuchte ich zu erklären und hoffte, dass mein Englisch verständlich war.
»Was wollen Sie denn da erledigen?« Ihre Stimme hatte einen vorsichtigen, sogar etwas argwöhnischen Unterton.
Ich zog den Reißverschluss meines Rucksacks auf und holte die Räucherstäbchen und den Beutel mit der Erde heraus. Ich tat, als würde ich Erde verstreuen, dann presste ich meine Handflächen unter dem Kinn zusammen.
Sie schien mich nicht zu verstehen, sagte jedoch: »Hier, ich mache Ihnen eine Skizze.«
Ich war schon lange wach und wartete auf die Morgendämmerung. Beim ersten Lichtschein stand ich auf. Ich folgte der Skizze der Gastwirtin und bog von der
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