Goldener Bambus
Hauptstraße in einen schmalen, unbefestigten Pfad ein.
Die Sonne umriss die Silhouetten der Berge und Bäume und färbte die Blätter golden. Obwohl mir der Anblick neu war, hatte ich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Meine Schritte knirschten auf dem sandigen Weg. Nach einer Weile glaubte ich, fließendes Wasser zu hören. Bildete ich mir das ein, weil es in Chinkiang so viele Bäche gab? Ich glaubte nicht, dass ich Heimweh hatte, jedenfalls noch nicht. Und dann stand ich plötzlich vor einem plätschernden Bach.
Ich beschloss, mir den Bach genau anzusehen und dann weiter das Grab zu suchen.
Das Sonnenlicht spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Ich folgte dem Pfad, der sich am Bach entlang in die Hügel schlängelte. In einiger Entfernung standen riesige Kiefern.
Eine Lichtung tat sich auf, und mein Blick fiel auf einen Bambushain – der gleiche goldene Bambus, den wir in Chinkiang hatten.
Dann sah ich es, das Grab meiner Freundin, zwischen dem Bambus versteckt.
Meine Kräfte verließen mich. Ich sank auf die Knie.
Drei chinesische Schriftzeichen waren in den Grabstein graviert. – Pearl Sydenstricker stand da. Nichts auf Englisch.
Freudentränen stiegen mir in die Augen, und dieses Mal kämpfte ich nicht dagegen an. Ich verstand Pearls Absicht. Sie hatte ihre chinesischen Wurzeln nie gekappt. Ihre letzten Gedanken hatten China gegolten, sie hatte China mit in die Ewigkeit genommen. Es war ihr unmöglich gewesen, diese Liebe hinter sich zu lassen, denn sie hatte »die Fülle einer solchen Liebe gekannt, mit all ihren Höhen und Tiefen«, um es mit ihren eigenen Worten auszudrücken. Dass die westlichen Besucher ihres Grabes die Bedeutung der chinesischen Schriftzeichen nicht kannten, kümmerte Pearl nicht. Kein Wunder, dass die Wirtin gemeint hatte, es wäre leicht zu verfehlen.
Mir war, als würde Pearl mich begrüßen. Ich konnte ihre Stimme hören. »Wie war deine Reise?«
Die drei chinesischen Schriftzeichen waren Pearls Namenssiegel, das sie von ihrem chinesischen Tutor, Mr Kung, bekommen hatte. In unserer Jugend hatte Pearl mir ihren Namen einmal erklärt. Der erste Buchstabe wurde
Sy
ausgesprochen, wie in Sydenstricker. Aus den vielen gleichklingenden Schriftzeichen hatte Mr Kung jenes mit dem »Landhaus mit dem großen Dach«, und das mit dem »Baby«, das darunter spielt, ausgewählt.
»Mein Nachname bedeutet auf Chinesisch ›ein süßer Schatz im Landhaus‹«, hatte Pearl mir stolz erklärt. »Gefällt er dir?«
Ich erinnerte mich, mit »ja« geantwortet zu haben, obwohl ich nicht lesen konnte. Das versuchte ich zu verbergen, indem ich mir die Form des ersten Schriftzeichensgenau ansah. »Sieh mal«, sagte ich. »Das ist kein gewöhnliches Landhaus. Das ist das Symbol für Geld.«
»Das ist kein Geld«, lachte meine Freundin. »Das sind Menschen.«
»Es gibt vier unter dem Dach!«
»Vier Arbeiter. Mein Vater hat gesagt, wir sind alle Arbeiter des Herrn.«
»Das Baby hat einen dicken Bauch«, rief ich.
»Es isst eben gern!« Pearl lachte.
Das zweite chinesische Schriftzeichen,, war das Bild einer Auster, aber zusammen mit dem dritten Schriftzeichen,, veränderte sich die Bedeutung zu
Pearl
– Perle.
Meine Freundin hatte ihre letzte Ruhestätte bewusst neben einem Bach gewählt. Das Grab zeigte gen Osten, womit sie die Regeln des Feng Shui beachtete. Den Garten, der es umgab, schirmten Kiefern und Zypressen ab. Außer dem Bambus gab es Ahornbäume, immergrüne Sträucher und Blumen. Wilde Lilien säumten den Bach, über dem ein anscheinend abgestorbener Baum lag, der dicke Stamm hohl und morsch. Zu meinem Erstaunen hatte er eine üppige grüne Baumkrone, und mitten aus dem morschen Stamm wuchs ein gesunder und kräftiger Ast. Der Baum hatte Pearl sicher gefallen, denn er versinnbildlichte die Zeile eines chinesischen Gedichts: »In morschen und sterbenden Bäumen zeigt der Frühling seine Kraft.«
Ich berührte den kalten Grabstein und legte meine Wange daran.
Liebe Pearl,
weil Du nicht nach China kommen konntest, habe ich China zu Dir gebracht.
Es ist nicht das Wiedersehen, das ich mir so lange Zeit erhofft hatte, und doch bin ich dankbar für diese Gelegenheit. Da mein Gedächtnis nicht mehr so gut ist und ich keinesfalls etwas vergessen wollte, habe ich alles auf sechs Zettel geschrieben, die ich zusammen mit den Räucherstäbchen an deinem Grab verbrennen werde.
Der erste Zettel betrifft das Ende von Madame Mao. Als sie Dir das Einreisevisum
Weitere Kostenlose Bücher