Goldener Bambus
mächtiger Gott«, sagte Papa, hob die Hand und zeigte zum Himmel. »Vielleicht der wahre Gott.«
»Wie heißt er? Bitte sagt es mir!«, flehte Kaiser Kohlkopf.
»Engel«, murmelte Pearl.
»Sein Name ist Engel«, übersetzte ich.
»Von so einem Gott habe ich noch nie gehört«, erwiderte Kaiser Kohlkopf. »Ist er neu?«
»Er ist uralt«, fuhr Pearl fort, »und existiert seit Anbeginn der Zeit. Nur die Klugen können ihn hören. Er ist wütend auf Sie.«
»Was … was will er von mir?«, fragte Kaiser Kohlkopfs mit kraftloser Stimme.
Pearl schwieg.
»Der Gott will nicht mehr mit Ihnen sprechen«, übersetzte ich. »Der Gott geht.«
»Bitte geh nicht!« Kaiser Kohlkopf hatte Angst. »Frag, warum er gekommen ist! Wenn er ein fremder Gott ist, frag nach seinem Schutzpatron in China.«
»Die Kaiserinwitwe Ihres Landes hat mich eingeladen«, sagte Pearl jetzt auf Chinesisch. »Der Oberste Minister des Kaisers, Mr Li Hongzhang, hat mich begleitet …«
Bevor Pearl den Satz noch beendet hatte, sank Kaiser Kohlkopf auf die Knie, machte Kotaus und schlug dabei die Stirn auf den Boden.
»Eure Majestät, ich wollte Euch nicht beleidigen! Ich … Ich verdiene den dreitausendfachen Tod! Bitte, vergebt mir!«
Wieder schloss Pearl die Augen.
»Bitte, geht nicht! Gebt mir eine Chance«, bettelte Kaiser Kohlkopf. »Eure Majestät, ich bitte um eine letzte Chance!«
»Setzt Zimmermann Chan und seine Frau frei«, sagte Pearl mit kaiserlichem Tonfall. »Und verlassen Sie umgehend Chinkiang.«
»Ja, Eure Majestät, das werde ich auf der Stelle tun.«
»Nun, es besteht wohl kein Zweifel daran, dass Pearl von Gott geschickt wurde, euch zu retten«, sagte Absalom zu Zimmermann Chan und Lilac. »Meine Tochter ist kein Engel, aber sie ist eine gute Christin.«
Später erzählte mir Pearl, dass ihr die Worte Absaloms zwar missfallen hatten, sie aber froh war, dass der Trick funktioniert hatte.
»Ich bin sicher, dass dein Vater dich liebt«, tröstete ich meine Freundin.
Pearl schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt bin ich neidisch auf alle, die er tauft. Fremden Menschen bringt er Zuneigung entgegen – dir, NaiNai, deinem Papa, Zimmermann Chan, Lilac und fast allen anderen in der Stadt. Aber nicht seinem eigenen Kind. Mir gegenüber ist er immer kalt.«
»Absalom liebt dich, Pearl.«
»Aber ich fühle es nicht. Meine Mutter fühlt seine Liebe auch nicht. Absalom zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück, um ungestört mit Gott zusammen zu sein!«
»Dein Vater ist stolz auf dich, sonst hätte er nicht gesagt, dass du eine gute Christin bist.«
»Absalom würde sein Leben für die Chinesen riskieren, so wichtig sind sie ihm. Trotzdem hält er sie für Heiden und fühlt sich ihnen überlegen. Sein Lebensinhalt ist, Menschen zu bekehren. Stell dir vor, er will es sogar bei den Kriegsherren versuchen.«
»Absalom will Kaiser Kohlkopf, General Hummer und General Krebs bekehren?« Ich lachte.
»Ja, und ihre Fischfrauen, Krabbengeschwister und Schneckenkonkubinen auch.«
»Das ist unmöglich!«
»O doch, Gott tut Wunder, ha ha ha.«
»Papa glaubt an alles, was gerade seinen Arsch rettet.«
»Mein Vater ist wahnsinnig und deiner lügt.«
Wir lachten und vergaßen unsere Väter.
Pearl und ich marschierten zu einem Außenbezirk der Stadt, wo gerade eine Hochzeit gefeiert wurde. Wir schlossen uns den Kindern an, die man eingeladen hatte, um Fruchtbarkeit anzuregen. Man gab uns Nüsse und Reiskörner, mit denen wir die Frischvermählten bewarfen. Der Bräutigam, ein junger Bauer, war schon betrunken. Als er den Gästen danken wollte, erbrach er sich stattdessen. Die Braut trug ein besticktes, leuchtend rotes Gewand. Ihr Gesicht war mit einem Seidentuch verschleiert. Pearl und ich bewunderten das Kleid und den glitzernden Haarschmuck. Als die Band das Hochzeitslied anstimmte, sangen wir mit.
Buddha sitzt auf einem Lotosblatt,
Finger schön wie Orchideen.
Die Sonne geht unter, und der Mond geht auf,
Möge euer Leben ruhig und friedvoll sein.
Lehmwände und Strohkissen,
Früchte, Samenkörner und viele Söhne,
Glück und langes Leben,
Möge es Frühling für euch sein mit all seinem schönen Wetter.
7 . Kapitel
D
er Aufstand der Boxer verbreitete sich wie ein Buschfeuer, doch erst zu Beginn des neuen Jahrhunderts erreichte er auch Chinkiang. Bauern mit rotem Turban auf dem Kopf kamen aus dem Landesinneren. Sie glaubten, die Ausländer zerstörten China. Dass Pearl und ihre Familie Ausländer waren, kam mir
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