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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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zunehmend fremd. Rouge wollte nicht mehr mit mir beten und warf das kleine Jesusbild weg, das ich im Badezimmer aufbewahrte. Sie erzählte mir, dass man sie zur Klassenführerin gewählt hatte. Morgens umarmte sie mich nicht mehr und sagte auch nicht auf Wiedersehen, sondern hielt die rechte Hand an die Schläfe und rief: »Salut, Genossen!« Eines Tages hing in meinem Schlafzimmer dort, wo zuvor ein Gemälde mit Lotosblüten war, das ich so gern hatte, ein Porträt Maos. Als ich protestierte, sagte Rouge: »Es ist in deinem eigenen Interesse, Mutter. Du scheinst nicht zu verstehen, was außerhalb unserer Familie vor sich geht.«
     
    Ich musste mich erst an meine neue Rolle als Frau eines Revolutionärs gewöhnen. Aus Sicherheitsgründen durfte ich niemandem meine Adresse verraten, nicht einmal Papa. Ich beklagte mich bei Dick, dass mein Vater mir fehle. Einen Monat später landete Papa wie ein Paket vor meiner Tür. Obwohl bei guter Gesundheit und froh, mich zu sehen, beschrieb er seine Reise als »Entführung«. Maos Geheimagenten hatten ihn in Chinkiang abgeholt und nach Bejing verfrachtet, ohne ihm zu sagen, wohin und zu wem er gebracht würde. Während seines Aufenthalts in der Verbotenen Stadt wurde Papa verwarnt, weil er einmal ohne Erlaubnis durch eines der Tore hinausgehen wollte. Er kämpfte mit der Wache und sagte, er wolle kein Gefangener sein. Am Ende flehte Papa mich an, ihm eine Fahrkarte zu kaufen, um nach Chinkiang zurückkehren zu können. Ich tat ihm den Gefallen und war traurig, als er den Zug bestieg, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wir hatten kaum Zeit miteinander verbringen und von unserem Leben erzählen können. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, wie es den anderen in Chinkiang ging.
    Ich suchte nach einer Möglichkeit, Pearl über meinen Umzug nach Bejing zu informieren. Von Maos Sieg hatte sie bestimmt schon gehört, und ich fragte mich, was sie von Chiang Kai-sheks Niederlage hielt. In gewisser Hinsicht hatte Pearl den Ausgang in früheren Briefen schon prophezeit. Obwohl Madame Chiang Kai-shek viele Menschen beeindruckt und die Öffentlichkeit hinter sich gebracht hatte, als sie in Amerika eine Kampagne für ihren Mann führte, hatte Pearl ihren Behauptungen misstraut. In der Vergangenheit hatte sie oft gesagt, dass die Chiangs machtgierig seien und eine Kluft zwischen den Chiangs und den Bauern in China herrsche; Maos Macht hingegen gründe darauf, dass er die Bauern verstand.
    Pearl hatte den Kommunisten nie getraut. Sie pflegte zwar die Freundschaft mit Dick und hatte unsere Heirat unterstützt, weil er mich liebte. Andererseits missfiel ihr die Gehirnwäsche, der er mich unterzog. Als ich einmal in einem Brief erwähnte, dass Dick Karl Marx verehre, schrieb Pearl zurück: »Weißt du, wer Karl Marx ist? Er war dieser seltsame kleine und nun schon lange tote Mann, der ein spießiges Leben führte und es irgendwie schaffte, mit seinem eigensinnigen Verstand Millionen von Menschen zu verführen!«
    Ich fand das einleuchtend, doch konnte ich sagen, was ich wollte, Dick beharrte auf seiner Meinung. In meinen Augen hatte er mit Maos Sieg eine Reise ohne Wiederkehr angetreten.
     
    Als Nächstes stand eine Feier der nationalen Unabhängigkeit auf Maos Agenda. Dick wurde die Organisation übertragen. Er war dankbar, dass Mao ihm diese Aufgabe anvertraute, und konnte endlich das tun, was er liebte – talentierte Menschen zusammenbringen. Bei Tageslicht sah ich Dick jetzt kaum noch. Ich sagte mir, dass ich froh sein konnte, meinen Mann nicht im Kampf verloren zu haben, und zufrieden sein sollte, dass die Kommunistische Partei sich um alles kümmerte. Wir hatten Köche, Fahrer, Ärzte, Schneider, Leibwächter und Putzfrauen.
    Sobald ich eine Möglichkeit sah, schrieb ich Pearl. Bejing war eine riesige Stadt, in der ich mich auf dem Postamt leicht unter die Menschen mischen konnte. Ich erzählte Pearl, dass Dicks Begeisterung für den Kommunismus zwar noch zugenommen hatte, ich aber eine unabhängige bourgeoise Liberale geblieben war und, schlimmer noch, eine Christin. »Das sich verändernde China begeistert und ängstigt mich zugleich«, gestand ich. »Mao ist in den Augen des Volkes ein Gott. Ich habe das Gefühl, meinen Mann und meine Tochter an ihn zu verlieren. Die Ironie daran ist, dass die beiden mich für verrückt halten.«
    Meiner Tochter zuliebe hörte ich auf, Kirchen in Bejing aufzusuchen. Doch selbst wenn ich dazu bereit gewesen wäre, hätte ich doch

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