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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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immer und immer wieder.«
    Ich hatte keine Ahnung, dass ich in so großen Schwierigkeiten steckte.
    »Du wirst von der inneren Sicherheit beobachtet«, fuhr Dick fort. »Du bist einen Schritt davon entfernt, als Sympathisantin des Feindes zu gelten. Pearls Status in Amerika und ihre öffentliche Kritik an Mao und der Kommunistischen Partei haben dazu geführt, sie als Feindin Chinas einzustufen.«
    »Werde ich verdächtigt?«
    »Was glaubst du denn? Man hat dich erwischt, wie du Informationen an sie weitergegeben hast.«
     
    In den Briefen an Pearl hatte ich meine Zweifel über Dicks Bemühen ausgedrückt, Leute für die kommunistische Sache zu rekrutieren. Ich vertraute ihr an, nicht vergessen zu können, was in den dreißiger Jahren in Yan’an passiert war. Damals waren mehrere Jugendliche aus Shanghai, die Dick angeworben hatte, als Spione verhaftet und erschossen worden. Ihre Familien versuchten noch immer herauszufinden, was mit ihren Angehörigen geschehen war. Wenn sie mit Dick sprachen, setzte er eine Maske auf. Obwohl er ihnen keine Antworten geben konnte, fühlte er sich verantwortlich und schuldig, auch wenn er sich noch so oft sagte, dass der Grund für die Morde der Krieg gegen Japan war.
    Ich hatte nicht vor, Pearl weitere Briefe zu schreiben, denn es war zu gefährlich. Die politische Atmosphäre hatte sich mit Maos Experiment, dem
Großen Sprung nach vorn
, verändert. Es begann 1958 und dauerte drei Jahre, bevor es sich als kompletter Fehlschlag erwies. Die ganze Nation wurde gezwungen, einen gemeinschaftlichen Lebensstil anzunehmen. Das Ergebnis waren Millionen Tote und ein hungerndes Volk. Ende 1962 schwand die Achtung vor Mao, und Stimmen wurden laut, die nach einem »kompetenten Führer« riefen.
    Als Mao seine Macht schwinden sah, unterdrückte er die wachsende Kritik. Madame Mao hielt eine nationale Pressekonferenz ab, um »Klarheit in das Durcheinander zu bringen«. Dick sollte einen »Schlachtplan« entwerfen. Seine erste Aufgabe war es, China nach außen abzuschotten. Er musste sich persönlich bei ausländischen Journalisten und Diplomaten dafür entschuldigen, dass ihre Visa-Anträge abgelehnt wurden. »Nur vorübergehend«, versicherte Dick ihnen. »China wird seine Tore schneller wieder öffnen, als Sie glauben.«
    Doch zu Hause gestand er mir, dass er in Bezug auf die Einhaltung der Versprechungen, die er seinen Freunden gemacht hatte, wenig zuversichtlich war. Mao beabsichtigte keineswegs, Chinas Tore wieder zu öffnen. Daraufhin wurde mir klar, dass ich Pearl schnellstens einen Brief schicken musste. Jetzt oder nie.
    Ich kam mir vor wie eine Geheimagentin, als ich wie eine Bauersfrau gekleidet meinen Brief in einem Postamt außerhalb Bejings einwarf. Es war ein warmer Apriltag, die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die Wolken, und die Bäume hatten hellgrüne neue Blätter. Kinder mit roten Schals um den Hals sangen fröhliche Lieder. Um meine Spuren zu verwischen, nahm ich verschiedene Busse. Auf dem Rückweg kamen mir die Tränen, denn ich spürte, dass ich nie wieder etwas von Pearl hören würde.
     
    Trotz aller Anstrengung konnte ich nicht länger das von der Partei geforderte politisch korrekte Verhalten, ein Lächeln und eine positive Haltung, zur Schau tragen. Jeden Tag fiel es mir schwerer. Zu Hause stritt ich mit Dick und ließ meine ganze Wut an ihm aus.
    »Mao stiehlt unschuldigen Menschen das Leben!«, schrie ich und warf meine Essstäbchen an die Wand. »Das ist unmenschlich!«
    »Opferbereitschaft ist ein besseres Wort.« Mein Mann gebot mir, leise zu sprechen, und schloss die Fenster.
    »Sprich ohne deine Maske mit mir, Dick! Sag mir, gibt es in deinem Herzen Fragen, Vorbehalte, Zweifel?«
    Dick verstummte.
    »Wie kannst du den Gedanken ertragen, für Mao gemordet zu haben? Du hast doch Mühe, dich zu rechtfertigen.«
    »Genug, Weide. Wir haben 1963 , nicht 1936 . Jetzt herrscht das Proletariat. Unser Vorsitzender tritt in Stalins Fußstapfen. Ein falsches Wort, und du verlierst deine Zunge, wenn nicht deinen Kopf.«
    »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
    »Ich bin müde.«
    Wir saßen uns lange gegenüber. Das Abendessen stand auf dem Tisch, aber wir hatten keinen Appetit.
    »Wenn Mao in Panik gerät, übertreibt er«, sagte Dick schließlich und holte tief Luft. »Er musste das Land von antikommunistischem Ungeziefer befreien.«
    »War es richtig, dass er die Ermordung der jungen Leute befahl, die du rekrutiert hattest?«
    »Damals ja. Aber heute nicht. Die

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