Goldfalke (German Edition)
Nesrin rieb sich die Augenlider. „Nachdem das Problem gelöst ist, können wir jetzt bitte endlich schlafen? Zum Duschen hab ich jetzt auch keinen Bock mehr.“ Mit ausgebreiteten Armen ließ sie sich, schmutzig wie sie war, rücklings auf ihr Bett fallen. Baski, die sich bereits auf dem Kopfkissen zusammengerollt hatte, sprang mit einem unwilligen Fauchen auf, kuschelte sich aber sogleich in Nesrins Haar. Einen Moment später schliefen beide.
Obwohl sich Kiana nie mit all dem Schlangenhöhlen -, Wüsten- und Karawanenasche-Staub zum Schlafen begeben würde, legte sie sich auf die Tagesdecke ihre Betts. Nur kurz, um ihr Gesicht an ihren Dschinn zu schmiegen. Nur kurz, um mit dem zarten Gefiederflaum an ihrer Wange die Schrecken zu vertreiben, die sich heute in ihre Seele gebohrt hatten.
Nur kurz.
Kiana erwachte so, wie sie sich hingelegt hatte: vollständig bekleidet, einschließlich der Schuhe und des Wüstenstaubs in den Haaren.
Zaghaft erhellt vom Licht des Morgens hockte ihr Dschinn reglos da, in ihren Arm gekuschelt, und sah sie aus wachen Augen an.
„Guten Morgen, Küken!“, flüsterte Kiana, woraufhin das Vögelchen einen kurzen heiseren Krächzlaut ausstieß.
Ihr Dschinn sprach mit ihr!
Gerührt strich sie über den Federflaum. „Na, was glaubst du? Welche unmöglichen Dinge warten heute auf uns?“ Das Küken legte den Kopf schräg, als würde es darüber nachdenken, ließ jedoch keine Antwort hören. Kiana nahm es in die Hand und erhob sich.
Fast wäre sie stöhnend zurück auf das Bett gefallen. Das dauernde Festkrallen am Teppichrand während der ganzen Fliegerei gestern hatte sich als Schmerz in ihren Muskeln und Knochen verewigt, von den Fingerspitzen bis in die verspannten Schultern hinein. Sie biss die Zähne zusammen und trug ihren Dschinn vorbei an der schlafenden Nesrin zum angrenzenden Bad. Nur Baski hob träge den Kopf.
In dem kleinen Badezimmer setzte Kiana ihren Dschinn auf den Waschbeckenrand und b enutzte die Toilette. Noch immer fand sie es ungeheuer beeindruckend, dass Nesrin ein eigenes Bad hatte. Und dass, was immer man der Toilette übergab, automatisch von reichlich Wasser fortgespült wurde. Und dass es neben der Dusche auch eine Badewanne gab. Und wohlriechende Seifen und Balsame und Lotionen und … alles.
Kiana zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Es fühlte sich so herrlich an, luxuriöses reines Wasser über ihren Körper laufen zu lassen und die Spuren des gestrigen Tages einfach wegzuspülen. Sie griff nach der Seife in der muschelförmigen, vergoldeten Ablage, erreichte sie jedoch nicht, weil die Wand sich ein stückweit … ja, was? Dehnte?
Das erinnerte sie an die vergangene Nacht, als ihr und Nesrin der Gang zu ihrem Zimmer abhanden gekommen war. Es war sicher eine gute Idee, Nesrins entschiedenes Auftreten nachzuahmen, das den Palast dazu bewogen hatte, den Weg freizugeben. „Hey!“, rief Kiana. „Gib mir sofort die Seife zurück!“
Die Wand verkürzte sich zu ihrer normalen Länge und brachte die Seife zurück in Griffweite.
„Du bist schon ein verrückter Palast.“ Unmittelbar nachdem Kiana das ausgesprochen hatte, wurde es hell in dem Raum. Sehr hell. Als sie die Ursache dafür erkannte, kreischte sie auf und hechtete nach dem Handtuch. Die Außenwand des Badezimmers war auf einmal völlig durchsichtig. Wie Glas. Kiana sah Himmel, Bäume, zwei Leute auf Flugteppichen - und war sich nur zu deutlich der Tatsache bewusst, dass man sie genauso gut sehen konnte.
Die Hektik machte sie unbeholfen, wodurch es unerträglich lange dauerte, bis sie das Han dtuch um ihren Körper geschlungen hatte und aus dem Bad gesprungen war. Die Erleichterung, die sie verspürte, als sie die Badezimmertür hinter sich ins Schloss warf, währte nicht lange, denn als sie den Schlafraum durchquerte, wurden auch dort die Wände durchsichtig. Immer genau in dem Bereich, den Kiana betrat.
„Es tut mir Leid , lieber Palast!“, rief sie. „Das habe ich nicht so gemeint! Du bist natürlich nicht verrückt, sondern … ganz normal!“
Nichts passierte, außer dass draußen ei n großer Vogel vorbeiflatterte, vielleicht Miro. Kiana verlegte sich nun aufs Flehen: „Bitte, es tut mir Leid!“
Nesrin blinzelte verschlafen und fuhr sich durch die verw uschelten Haare. „Was ist los, hey? Du kreischst ja, als wäre eine Horde Ghule hinter dir her.“
„Oh Nesrin, die Wände sind plötzlich durchsichtig gewo rden. Ich glaube, ich habe den Palast beleidigt.“
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