Goldfalke (German Edition)
unheimlich. Warum sonst sollte Kianas Herz noch immer klopfen, obwohl sie es peinlichst vermied, ihn weiter anzusehen?
Doch andererseits: Wie dankbar wäre sie bei den Aufgaben, die vor ihr lagen, über die Hilfe eines so mächtigen Dschinns wie Farids Feueradler! Unwillkürlich begutachtete sie das Dschinn-Küken auf ihrem Knie. „Was kannst du eigentlich, Vögelchen?“
Das Küken sah sie nur stumm an. Statt seiner antwortete Nesrin: „Das fragst du noch, Ki? Wie Sayed sagt: Ich finde und du triffst. Wenn also Baski ein Finder ist, muss dein Dschinn ein Treffer sein. Probier es doch aus! Befiehl ihm, etwas zu treffen. Irgendwas.“
Skeptisch streichelte Kiana den Gefiederflaum des Kükens. „Also gut.“ Ohne große Hoffnung, dass ihr Dschinn überhaupt verstehen würde, was sie von ihm wollte, geschweige denn dazu fähig wäre, es zu tun, suchte sie ein leichtes Ziel. In dem Moment wehte die laue Morgenbrise ein Blatt von einem der Obstbäume nebenan herbei und ließ es eine Handbreit neben Kianas Fuß zu Boden fallen. Ihr Dschinn brauchte nur von ihrem Knie zu hüpfen, oder auch nur zu klettern, um das Blatt zu berühren. Eine machbare Aufgabe. „Fang das Blatt, Vögelchen!“
Aber d ann wurde das Blatt erneut vom Wind erfasst und durch die Luft gewirbelt. Kiana wollte gerade ihren Befehl widerrufen, als ihr Dschinn plötzlich ruckartig in die Luft stieg. Mit abgehackten Flatterbewegungen flog er dem Blatt hinterher in die Mitte der Terrasse und gewann rasch an Geschwindigkeit. Eine Frau, um deren kunstvolle Hochsteckfrisur sich eine silberne Schlange wand, duckte sich, als das Küken beängstigend tief über sie hinwegtorkelte. Die Silberschlange suchte Deckung, indem sie sich zwischen die Haarschlingen wühlte.
Blatt und Dschinn wurden schneller und schossen zwischen zwei Männern hindurch. Kiana sprang auf, als einer der beiden Männer fluchend nach dem Vögelchen schlug. Nur weil es seinen Tee umgestoßen hatte.
„Oh nein, nein, nein!“ Von Angst um ihren Dschi nn getrieben rannte Kiana los, stolperte über Sitzkissen und Füße und … anderes - „Entschuldigung! Es tut mir so Leid!“ - während ihr Küken einem von Avas Dschinns das Tablett aus den hellblauen Fingern riss. Klirrend zerschellten Tassen und Teller auf den polierten Marmorfliesen.
Blatt und Dschinn flatterten weiter zu einer Blumenrabatte. Ein paar Blütenblätter flogen durch die Gegend, bis das Küken wieder an Höhe gewann, eine Frau in die Flucht trieb und schließlich mit dem Schnabel voran auf Prinz Farid zustach.
„Nein!“, schrie Kiana und hetzte ihrem Dschinn hinterher, doch es war zu spät. Das Küken traf auf ... nein, nicht auf Farid, wie es zunächst ausgesehen hatte, sondern …
So blitzschnell, dass man den Bewegungen kaum folgen konnte, waren der Prinz und sein Teppich in der Luft, und noch bevor Farid breitbeinig auf den Füßen landete, noch bevor Kianas Dschinn auftraf, klappte der Teppich nach vorn und stand wie ein Schild vor seinem Herrn. In diesem Teppich, etwa in Höhe von Farids Leistengegend, steckte nun Kianas Dschinn. Starr und gestreckt wie ein Pfahl. Der Schnabel hatte sich bis zum Anschlag zwischen die Teppichfasern gebohrt und dabei auch das Blatt aufgespießt.
Farids Stimme klang so schneidend wie die Klinge von Onkel A bdullahs Fleischermesser: „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du diesen Witz von einem Dschinn aus meinem Teppich entfernen würdest!“
Kianas automatisch angelaufenes Entschuldigungsgestammel brach sofort ab, als die Beleid igung ihres Vögelchens Wut in ihr entfachte. Sie presste die Lippen zusammen, trat zu Farid, legte beide Hände schützend um ihren Dschinn und zog daran. Ganz vorsichtig.
Oh Gott, lebte er überhaupt noch? Falls ein Dschinn überhaupt lebte. Der Schnabel steckte bombenfest.
De r Prinz, dessen Geduld sich zusehends erschöpfte, packte fluchend mit beiden Fäusten Kianas Hände mitsamt dem Dschinn. Eine ruckartige Bewegung, und der Vogel war aus dem Teppich entfernt. Nur einen atemlosen Moment länger als nötig hielt Farid Kianas Hände fest, dann ließ er sie los und wich einen Schritt zurück.
Während sich ihr Dschinn rasch aus der Erstarrung löste, gelang das Kiana nur halbwegs. Stolz, wie es schien, reckte das Küken seinen Schnabel in die Höhe, auf dem das erbeutete Blatt steckte. Kiana zupfte es weg und strich über das flauschige Gefieder. Als sie sich vergewissert hatte, dass ihr Vögelchen seinen Sturzflug unversehrt überstanden hatte,
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