Goldgrube
uns war für mich genauso schmerzhaft.
»Hast du schon zu Abend gegessen?«
»Ich konnte mich noch nicht entschließen. Ich habe gerade bei den Maleks etwas getrunken«, sagte ich matt. Die Worte klangen seltsam, und ich hätte mir am liebsten selbst auf die Brust geklopft, um mich zu trösten. Ich wäre mit der Situation fertig geworden, wenn er nur nicht zurückgekommen wäre. Der Tag war hart gewesen, aber ich hatte ihn überstanden.
»Möchtest du etwas erzählen?«
Ich schüttelte den Kopf, da ich meiner Stimme nicht traute.
»Was dann? Du bestimmst. Ich mache alles, was du willst.«
Ich sah von ihm weg und dachte an die beängstigenden Risiken der Intimität, das Verlustpotential, den leisen Schmerz in jeder Verbindung zwischen zwei Wesen — Mensch oder Tier, was machte das schon für einen Unterschied? In mir bekriegten sich der Überlebensinstinkt und das Bedürfnis nach Liebe schon seit Jahren. Meine Vorsicht war wie eine Wand, die ich zu meinem eigenen Schutz aufgebaut hatte. Aber Sicherheit ist eine Illusion, und die Gefahr, zuviel zu empfinden, ist nicht schlimmer als die Gefahr, emotionslos zu sein. Ich schaute wieder zu ihm hin und sah meinen Schmerz in seinen Augen gespiegelt.
Er sagte: »Komm her.« Mit einer liebevollen Geste bedeutete er mir, näher zu kommen.
Ich durchquerte den Raum. Dietz lehnte sich an mich wie eine Leiter, die ein Dieb zurückgelassen hat.
9
Dietz’ Knie war so geschwollen und tat so weh, daß er nicht die Treppe hinaufsteigen konnte, also klappten wir die Bettcouch auf. Ich holte die Steppdecke aus dem Dachgeschoß. Wir machten die Lampe aus und krochen nackt unter das Federbett wie Eisbären in eine Höhle. Wir liebten uns in dem bauschigen Iglu der Daunendecke, während um uns herum die Straßenlampen durch das Bullaugenfenster hereinschienen wie Mondlicht auf Schnee. Lange trank ich nur seinen moschusartigen Geruch, Haar und Haut, und erfühlte mir blind den Weg über seine verschiedenen Körperpartien. Die Wärme seines Körpers taute meine kalten Gliedmaßen auf. Ich fühlte mich wie eine Schlange, die sich auf einem Fleckchen Sonnenlicht zusammenringelt, nach einem langen, erbarmungslosen Winter nun bis ins Innerste durchgewärmt. Ich kannte seine Art noch von unseren drei gemeinsamen Monaten her — seinen Blick und die verlorenen Laute, die er ausstieß. Was ich vergessen hatte, war die glühende Reaktion, die er in mir hervorrief.
In meiner Jugend hatte es eine kurze Phase gegeben, die von Leichtsinn und Promiskuität gekennzeichnet war. Damals schien Sex keinerlei Konsequenzen zu haben. Heutzutage müßte man ein Idiot — oder selbstmörderisch veranlagt — sein, um ohne aufrichtige Gespräche und den Austausch ärztlicher Atteste zufällige Begegnungen zu riskieren. Ich für meinen Teil lebe meist enthaltsam. Ich glaube, es ist so ähnlich, wie wenn man eine Hungersnot durchmacht. Ohne die Hoffnung, gestillt zu werden, nimmt der Hunger ab, und der Appetit schwindet. Bei Dietz konnte ich all meine Sinne aufleben spüren, meine natürliche Zurückhaltung wurde von der Sehnsucht nach Berührung erstickt. Dietz’ Verletzung erforderte Geduld und Einfallsreichtum, aber irgendwie schafften wir es. Die Prozedur brachte einiges Gelächter über unsere Verrenkungen sowie stille Konzentration in den Momenten dazwischen mit sich.
Um zehn schlug ich schließlich die Decke beiseite und entblößte unsere schwitzenden Leiber den arktischen Temperaturen um uns herum. »Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich bin am Verhungern«, sagte ich. »Wenn wir nicht bald aufhören und etwas essen, bin ich morgen früh tot.«
Eine halbe Stunde später saßen wir geduscht und angezogen in meiner Lieblingsnische bei Rosie’s. Sie und William arbeiteten beide, er hinter der Bar, und sie bediente an den Tischen. Normalerweise schließt die Küche um zehn, und ich sah ihr an, daß sie kurz davor war, uns genau dies mitzuteilen, doch dann bemerkte sie meine vom Kontakt mit Dietz’ Bartstoppeln geröteten Wangen. Ich stützte das Kinn auf die Handfläche, aber sie hatte meinen sexuell bedingten Ausschlag schon bemerkt. Die Frau mag zwar an die Siebzig sein, aber ihr entgeht nichts. Auf einen Blick schien sie den Ursprung unserer Zufriedenheit ebenso zu erkennen wie unser gieriges Bedürfnis nach Nahrung. Ich dachte, die Verwendung von Make-up hätte meine wunde Haut wohl erfolgreich kaschiert, aber sie grinste uns unverhohlen an, als sie uns die Speisen nannte, die sie für
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