Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
haben.«
»Ich weiß, ich weiß das doch«, versuchte Kroll, seine Ungeduld zu zügeln. Er wollte es unbedingt vermeiden, dass er den Eindruck erweckte, den Mitarbeitern der Spurensicherung Vorwürfe zu machen. »Für uns sind diese Abdrücke nur sehr wichtig. Kannst du da noch mal in die Spur gehen?« Er lächelte besänftigend. »Wer, wenn nicht du, könnte uns sonst helfen?«
Der Mitarbeiter der Spurensicherung verabschiedete sich grinsend und ging wieder zum Haus der Familie Fleischer. Kroll blieb vor dem Baum stehen und verharrte eine Zeitlang nachdenklich. Er sah sich noch einmal die Abdrücke im Erdboden an, dann ließ er seinen Blick über die gepflegten Vorgärten in der Nachbarschaft streifen.
Vor einem Garten stand ein älterer, untersetzter Herr mit rundlichem Gesicht, der den Gehweg fegte, vermutlich, um für das bevorstehende Osterfest alles in beste Ordnung zu bringen. Er trug eine abgewetzte braune Cordhose, eine graue Jacke und einen Pepita-Hut. Der Mann konnte nicht sehen, dass Kroll auf ihn zuging, weil er ihm den Rücken zugekehrt hatte. Kroll hörte, dass er bei der Arbeit eine Melodie summte. Ihm kam die Melodie bekannt vor. Er tippte dem Mann leicht auf die Schulter. Der erschreckte sich nicht, sondern drehte sich langsam um und lächelte Kroll freundlich an. »Kann ich etwas für Sie tun?«
»Die Melodie, die Sie gerade so vor sich hin gesummt haben«, begann er zögernd, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Die kommt mir irgendwie bekannt vor. Was war das für ein Lied?«
Der alte Mann musterte ihn. Er versuchte, Krolls Alter zu schätzen. »Ach, junger Mann. Das ist doch so ein uralter Schinken. Den habe ich zum ersten Mal gehört, als ich mit meiner Frau in Italien war. Gleich nach der Wende. Und jetzt kriege ich die Melodie nicht aus dem Kopf.« Er stützte sich auf den Besen und lehnte sich leicht zurück. Er nahm die Pose eines Opernsängers ein und malte mit dem freien Arm einen Halbkreis. »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt … «, sang er inbrünstig, aber doch so gedämpft, dass die Nachbarn es nicht hören konnten.
Kroll schlug sich mit der Hand vor den Kopf und schloss kurz die Augen. »Aber weshalb jetzt! Warum ist Ihnen gerade jetzt diese Melodie wieder eingefallen?«
»Sie werden es kaum glauben«, lächelte der Mann, »vor ’ner halben Stunde ist hier so ein bärtiger Mann mit einem Leierkasten vorbeigelaufen und der hat genau dieses Lied gespielt, und jetzt hat sich diese Melodie irgendwie wieder in meinen Kopf gefressen. Kennen Sie das? Eigentlich finde ich das Lied gar … «
Kroll hörte dem Mann nicht mehr zu, der direkt vor ihm stand und redete. Die Spuren … der Leierkasten … Benedikt Papst … Papst Benedikt … Hochwürden. Plötzlich schien sich ein Puzzle in seinem Kopf zusammenzusetzen. Diesmal rannte er wieder zum Haus der Fleischers. Der Leiter der Spurensicherung war immer noch im Vorgarten beschäftigt. »Die Spuren«, schrie Kroll, »könnten die von einer Drehorgel stammen?«
Der Beamte in dem weißen Overall überlegte einen Moment. »Ich weiß jetzt nicht genau, wie breit die Abdrücke in concreto sind. Aber vom Gewicht her wäre das absolut plausibel. Das wäre zumindest eine Erklärung für die Tiefe der Abdrücke.«
Das reichte Kroll. Er nahm sein Handy und informierte Wiggins. »Der Leierkastenmann! Die Abdrücke sind von einer Drehorgel! Benedikt Papst ist Hochwürden. Informier sofort die Fahndung. Die sollen nach dem Leierkastenmann suchen!«
Wiggins fragte nicht nach. Ihm war sofort klar, dass Kroll recht hatte. Diese Übereinstimmungen konnten nicht zufällig sein.
Kroll ging ins Haus. »Wo ist Ludwig?«, fragte er hektisch, nachdem er Heidi Fleischer im Wohnzimmer entdeckt hatte.
»Der ist mit seinem Rad in die Stadt gefahren«, erklärte Heidi Fleischer, wobei sie vorgab, dass Krolls Unruhe sie überraschte.
»Sie haben also noch immer nicht mit ihm geredet?«, wurde Kroll laut.
»Er wollte doch nur in die Stadt. Er ist dort mit Freunden verabredet. Soll ich so eine wichtige Sache etwa mit ihm zwischen Tür und Angel besprechen?«
»Was?«, Krolls Stimme überschlug sich. Er sah Heidi Fleischer verständnislos an. Sie versuchte tatsächlich, sich zu rechtfertigen.
»Was soll denn schon passieren? Am helllichten Tag, mitten in der Stadt. Ich habe ihm gesagt, er soll um sechs wieder daheim sein. Dann wollte ich mit ihm reden. Und außerdem ist er ja nicht allein.«
»Mit wem hat er sich verabredet?«
»Mit
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