Goldmacher (German Edition)
hast du bloß vor? Willst du etwa deinen treuen Ehemann verlassen und zu Paula nach Berlin gehen, um dich sexuell zu befreien?«, fragte Irenes Mann mit gespielter Besorgnis.
»Mach du nur deine Witze! Ich glaube, das Lachen wird uns allen noch vergehen, diese jungen Leute meinen es ernst. Sogar sehr ernst«, orakelte Irene.
»Aber ja, todernst«, witzelte Irenes Mann weiter.
»Mir gefällt diese Ernsthaftigkeit«, behauptete Irene mit Trotz in der Stimme, »sie haben ein Anliegen, ihnen geht es um etwas. Worum geht es uns denn noch? Wir sind satt und zufrieden, und wenn wir überhaupt etwas wollen, dann wollen wir einfach nur mehr. Stimmt doch, oder?«
Irene sah jetzt mit triumphierender Miene in die Runde, verharrte bei Anton und heftete ihren Blick an ihn: »Du bist doch eigentlich ein Polizist«, begann sie, »du passt doch nur auf. Nein, unterbrich mich nicht, ich weiß, ich drücke mich falsch aus, aber was ich sagen will, Anton, diese jungen Leute, die sind keine Polizisten, die wollen die Gesellschaft verändern …«
»Hört, hört«, unterbrach Irenes Mann.
»Ja, hör du nur gut zu!«, befahl sie ihm in schwankender Tonlage, »denn alle sollen sich emanzipieren, auch du, verstehst du? Alle sollen die Chance haben, versteht ihr?«
Irene sah alle an: »Nur wenn alle, wirklich alle eine Chance haben, hat unsere Gesellschaft eine Chance, das habe ich heute Abend von den Berlinern gelernt. Ach, wie ich Paula beneide, dass sie in Berlin dabei sein kann. Liebes, bitte setz dich zu uns«, rief Irene einem gerade erst eintreffenden Gast zu, einer bekannten Kolumnistin. »Du kommst zu spät, die Berliner haben dich hier erwartet, jetzt sind sie gegangen! Du hast Migräne? Du Arme! Möchtest du ein Aspirin? Du willst schon wieder gehen? Lexa? Ich kenne keine Lexa. Ihr wollt alle gehen? Schätzchen, ich glaube, es ist allgemeiner Aufbruch«, meinte Irene zu ihrem Mann, erhob sich mit Schwung aus der Tiefe des Sofas und stand dann leicht schwankend davor, fiel nun ganz plötzlich Anton um den Hals und verlangte, er solle schwören, dass er nicht böse auf sie sei, weil sie ihn einen Polizisten genannt habe, was Anton sofort schwor.
3.
Sissi gähnte, verstellte den Sitz und schlief dann bei dem Versuch, die Demonstration von Lexas Freund Christoph vom Umschlag der kapitalistischen Gesellschaft in die Diktatur des Proletariats zu rekonstruieren, ein. Anton schaltete das Radio an. Beim Halt an einer Ampel suchte er einen Sender mit Popmusik und entschied sich dann, leise von den Doors begleitet, nicht den Weg über die Reeperbahn zu nehmen, sondern an der Elbe entlangzufahren, vorbei an den Kränen im rötlich gelben Dunstschein der Hafenbeleuchtung und an den erleuchteten Docks, in denen auch nachts Schiffe repariert oder überholt wurden. Es war seine tägliche Strecke, und diese abwechslungsvolle Fahrt, stimmungsreich wie das Licht, die Jahreszeiten und das Wetter, versöhnte ihn jeden Tag mit dem längeren Weg in die Redaktion, sie wohnten jetzt in einem Vorort an der Elbe.
Er schaltete die Scheibenwischer ein, der Nieselregen hatte sich verstärkt und war in Schneeregen übergegangen, die Temperatur bewegte sich um den Gefrierpunkt, außerhalb des Stadtzentrums würden die Straßen überfroren sein, vermutete Anton. Er griff nach einer der Decken, die für die Zwillinge auf der Rückbank bereitlagen, und legte sie Sissi über die Knie, die von ihrem neuen Minimantel nicht bedeckt wurden. Er hätte gern seinen Arm um sie gelegt, sie an sich gezogen und ihren warmen Atem an seinem Hals gespürt. Die Ampel schaltete auf Grün und der Wagen rutschte beim Anfahren zum ersten Mal ein wenig aus der Spur, Anton umfasste nun das Lenkrad mit beiden Händen. Er war sehr froh gewesen, als er Sissi im Audimax in der ersten Reihe erkannte. Das hatte ihm geholfen, seinen aufsteigenden Unmut und Ärger im Zaum zu halten. Jetzt streifte er mehrmals kurz hintereinander ihr Gesicht und beobachtete, wie die Straßenbeleuchtung Licht und Schatten darüberfliegen ließ.
Die ersten Wochen und Monate nach der Geburt der Zwillinge waren für ihn eine schwierige Zeit gewesen, Sissi hatte nur noch Augen und Ohren für die Keimlinge, wie er seine Söhne in diesen ersten Wochen und Monaten nannte. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber er war eifersüchtig und fühlte sich verlassen durch die bedingungslose Zuwendung, die Sissi ihnen schenkte. In dieser Keimlingszeit nun hatte er die Nähe zu Franz gesucht und wieder häufiger mit
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