Goldmacher (German Edition)
Müller, den sich Franz mit ein bisschen angeberischem Getue zum Adjutanten erzogen hatte, begann er, den anderen HJ lern seine fantastischen Wunderwaffengeschichten zu erzählen. Sie lauschten ihm voll Spannung.
Anton hingegen hörte nicht zu, er saß etwas entfernt im Heu und las in »Moby Dick«.
Das missfiel Franz prinzipiell, heute jedoch umso entschiedener, je mehr Geschichten er zum Besten gab. Seit seiner Bekehrung durch Erhard Heyn fühlte sich Franz als Eingeweihter. Er zelebrierte seine Mitteilungen über die bevorstehenden großen Ereignisse ähnlich weihevoll wie sein ehemaliger Lehrer, und er wollte, er durfte es einfach nicht dulden, dass Anton sich dieser Weihe entzog.
Von seinem immer noch leicht aufbrausenden Temperament überwältigt, rief Franz, auch wenn er das Bücherlesen inzwischen nicht mehr verachtete, weil er in den letzten Jahren, angeregt durch Heyn, Bücher über Geheimwissen und Geheimbünde geradezu verschlungen hatte, in die um ihn versammelte HJ ler-Runde: »Dünn und blass, wer ist das?«, und gab gleich die Antwort: »Der Bücherwurm!«
Mit einem großen Sprung hechtete er zu Anton hinüber, riss ihm das Buch aus der Hand, gab laut den Titel bekannt und fragte dann voll demonstrativer Verachtung: »Wer soll denn das sein, Moby Dick, wer hat denn so einen komischen Namen?!«
»Moby Dick? Moby Dick?«, machten die anderen Franz nach und schauten wie er verächtlich.
»Moby Dick ist ein weißer Wal«, sagte Anton mit unterdrücktem Zorn in der Stimme, es fiel ihm schwer, Franz das Buch nicht sofort wieder aus der Hand zu reißen, doch zweifellos könnte es dabei beschädigt werden, und das wollte er keinesfalls riskieren, also beherrschte er sich lieber.
»Hahaha!«, lachte Adjutant Hans Müller, »dick und weiß, das macht uns heiß!«, assistierte er Franz.
»Dick und weiß, das macht uns heiß!«, wiederholten die anderen HJ ler nun mehrmals hintereinander im Chor, bis Franz sie mit einer Handbewegung unterbrach.
»Und was könnte uns an einem weißen Wal interessieren?«, fragte er und blätterte mit einer bemüht überlegenen Miene in den Seiten, ohne eine Zeile zu lesen.
»Dass er siegen wird«, sagte Anton. Er wollte Franz keineswegs provozieren, die Unversehrtheit des Buches war ihm das Wichtigste in diesem Moment.
»Bist du verrückt?!«, schrie Adjutant Hans Müller empört und sah von ihm zu Franz. Die anderen taten es dem Adjutanten gleich. Franz war der Anführer, er würde wissen, wie man mit einem Bücherwurm, der Blödsinn redete, umging. Ein Held siegt, würde siegen können, aber doch kein Tier. Und sowieso kein Wal, auch wenn es ein weißer Wal gewesen wäre. Den es ja noch nicht einmal gab. Kein Zweifel, dieser Anton Bluhm wollte den Franz Münzer provozieren.
»Herman Melville«, las nun Franz laut den Namen des Verfassers, er wollte Zeit gewinnen, »da fehlt ein N, Hermann wird mit zwei N geschrieben.«
»Melville ist Amerikaner«, sagte Anton und lächelte, er wollte besänftigen, »der schreibt sich nur mit einem N.«
»Ein Amerikaner auch noch!«, rief Franz, nun tatsächlich empört: »Wie kann man nur ein Buch von einem Amerikaner lesen! Die schreiben doch alle nichts als Unsinn.«
»Moby Dick ist ein Rätsel«, kürzte Anton, immer noch freundlich, ab und streckte Franz dabei seine Hand nach dem Buch entgegen, der sie einfach übersah.
»Ein Rätsel?«, gab Adjutant Hans Müller wieder Franz das Stichwort.
»Was soll das denn heißen, ein Rätsel? Das ist doch nichts anderes als amerikanischer Unsinn«, entschied Franz, jetzt verärgert über Antons freundliche Gelassenheit.
Um seinem Ärger über den Bücherwurm und seinen amerikanischen Unsinn angemessen Ausdruck zu verleihen und um die anderen HJ ler, die ihn beobachteten, zu beeindrucken, warf er, heftiger als eigentlich beabsichtigt, das schwere Buch mit Wucht hoch über Antons Kopf hinweg in die Tiefe des Heubodens. Dort krachte es noch im Flug gegen einen der Holzpfeiler und fiel zu Boden.
Anton schossen Tränen in die Augen. Tränen des Zorns. Des heiligen Zorns. Für ihn besaßen Bücher eine fast sakrale Aura. Erst recht dieses. Das Rätselbuch, ein Buch für das ganze Leben, wie der Vater gesagt hatte. Es zu misshandeln, dieses Buch mit all seinem Versprechen, es gar zu zerstören, das war nicht nur eine grobe Verletzung, es war eine Schändung und eine Schande zugleich, und die würde Franz sühnen müssen.
Wie schon einmal, als Anton für eine Schändung Sühne forderte,
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