Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
wenn jemand ihn darum gebeten hätte. Sein Motto hieß: »Der Weg und die Natur sind das Ziel, nicht der Fund«. Er kehrte nie an den Ort eines Fundes zurück. Was für ein Schwachkopf der Wachtler doch war! Kofer schüttelte bei dem Gedanken den Kopf. Naturliebhaber und trotzdem erfolgreich. Eigentlich unfassbar. Aber was, wenn sich Sara nicht an die Abmachung hielt und sich an einschlägige Fachverlage wandte? Über Kontakte verfügte sie schließlich, sie hatte bereits genug veröffentlicht. Sein Blick fiel auf den Karabinerhaken an ihrem Klettersteigset. Ein einziger schneller Griff, dann ein minimaler Stoß, und Sara würde nie mehr etwas veröffentlichen.
6
Sarnthein, Heiligabend
Schweigend saßen sie sich in Vincenzos moderner Polstergarnitur vor dem großen Panoramafenster gegenüber. Vor ihnen zwei Espressi und Grappa, die sie noch nicht angerührt hatten. Ihr Blick schweifte über eine verschneite Landschaft, die von der allmählich untergehenden Wintersonne mit einem Hauch von Rosa überzogen wurde. Der Rauch der Kamine aus den Nachbarhäusern stieg langsam und gleichmäßig auf. Es war eisig kalt, das Thermometer zeigte unter minus zehn Grad. Ein romantischer Wintertag wie aus dem Bilderbuch, und auch in seiner Wohnung hatte Vincenzo alle Register der Romantik gezogen. Der dezent geschmückte Tannenbaum stand neben der Stereoanlage, aus deren Lautsprechern die sanfte Stimme von Dean Martin ertönte. Beide hegten eine Vorliebe für typisch amerikanische Weihnachtslieder. Neben dem CD -Player lagen schon Bing Crosby, Nat King Cole, Doris Day und, ganz oben auf dem Stapel, Frank Sinatra bereit. Unter dem Baum waren die Geschenke für die Bescherung ausgebreitet. Während Vincenzo für Gianna tief in die Tasche gegriffen und eine regelrechte Burg aus Präsenten aufgebaut hatte, konnte er für sich lediglich zwei kleine Päckchen entdecken.
Seit ihrer Rettung aus den Tiefen des Gletschers war Gianna nicht mehr dieselbe. Sie gab Vincenzo und der Polizei die Schuld, dass sie so lange in dem eisigen Verlies hatte ausharren müssen und dort aufgrund des Jahrhundertsturms fast elendig verreckt wäre. Sie war davon überzeugt, dass ihr Freund, Commissario Vincenzo Bellini, die Lösegeldübergabe bewusst verhindert hatte, um den Entführer zu fassen und damit seiner Karriere den lang ersehnten Push zu geben. Selbst ihre Eltern, immerhin Inhaber einer angesehenen Mailänder Anwaltskanzlei, konnten Gianna nicht von ihrer Fehleinschätzung abbringen. Zu lange war sie im Eis gefangen und dem perfiden Entführer auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen. Und es schien, als hätte dieser die Zeit genutzt, um sie umzupolen, sodass sie ihm schließlich seine Lügen glaubte.
Von Giannas Therapeuten wusste Vincenzo, dass seine Freundin an einer posttraumatischen Belastungsstörung infolge der Entführung, des Ausgeliefertseins und der Angst litt. Er sprach vom Stockholm-Syndrom, jenem Phänomen, das dazu führt, dass sich das Entführungsopfer im Laufe der Zeit mit seinem Entführer solidarisiert. Im Endeffekt ähnelte es einer Überlebensstrategie: Stell dich gut mit ihm, sorg dafür, dass er dich mag, dann wird er dir auch nichts tun. Bedauerlicherweise gab es für diese Störung keine spezielle Therapie, da Entführungen sehr selten und die Folgen des Syndroms bisher kaum Thema von Forschungen gewesen waren. Zudem spielte stets eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle. Die eine Reaktion, die bei allen Opfern gleich war, gab es nicht. In Giannas Fall war es weniger das erlebte Gefühl von Furcht vor dem Entführer oder gar Todesangst gewesen, das zu ihrer jetzigen Situation geführt hatte, sondern die psychische Beeinflussung durch den Täter, ihr bizarres, lebensfeindliches Gefängnis und das lange Alleinsein. Insofern mussten sich Gianna, Angehörige und nahestehende Personen auf eine längere Behandlungszeit einstellen.
Vincenzo, der über keine geringe Empathie verfügte, konnte das alles gut nachvollziehen. Ihm war auch bewusst, dass Gianna zudem Schuldgefühle haben musste und ihre Verschlossenheit gegenüber der Außenwelt mithin eine unbewusste Ablehnung ihrer selbst war. Aber dass sich ihr Verhalten auch nach so langer Zeit nicht im Geringsten verbesserte, sie im Gegenteil immer distanzierter wurde, das machte ihn schlichtweg fertig. Sie war nur noch kühl und abweisend. War ihre Beziehung vor der Entführung von Leidenschaft und Hingabe geprägt gewesen, hatten sie seitdem kein einziges Mal mehr Sex gehabt.
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