Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
gewaschen. Schon sein souveränes Auftreten hatte dem Gegner den Wind aus den Segeln genommen. Es gab keinen Zweifel, dass die Fusion genehmigt werden würde.
Noch immer war Gianna fasziniert von di Angelo, konnte aber nicht einschätzen, ob sie sich als Frau von ihm angezogen fühlte oder in ihm eher einen väterlichen Freund sah. Möglicherweise war es eine Kombination aus beidem. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie ihn mit Vincenzo verglich, und jedes Mal hatte sie dabei ein schlechtes Gewissen, konnte aber nichts dagegen tun. Sie fühlte sich noch immer zu Vincenzo hingezogen, und doch herrschte eine merkwürdige Form von Distanz zwischen ihnen, die sie sich nicht erklären konnte. Seit Heiligabend hatte sie ihn genau zwei Mal angerufen. Er war bemüht, versuchte, einfühlsam zu sein, kam aber nicht an sie heran. Er hatte ihr vorgeschlagen, ein Wochenende nach Sarnthein zu kommen. »Einfach so, damit wir uns mal wieder sehen, ohne jeden Zwang.« Als er sie dann aber doch wieder auf ihre Therapie angesprochen hatte, machte sie innerlich sofort dicht. Es war, als fiele ein Vorhang, und sofort lenkte sie das Gespräch wieder auf Belanglosigkeiten. »Liegt viel Schnee bei euch?«, »Warst du oft Skifahren?«, »Wie geht es deinen Eltern?«. Sie spürte den unerklärlichen Zwang, jedwede Intimität zwischen ihnen im Keim zu ersticken, wofür sie sofort wieder ein schlechtes Gewissen überkam. Es war dieser unglückselige Gefühlsmix, der sie auf Kontakt zu Vincenzo so weit wie möglich verzichten ließ.
Ihr traumatischer Zustand hatte sich indes gebessert. Und das lag weniger an ihrem Therapeuten, der sich noch immer nach Kräften bemühte, sondern eindeutig an di Angelo. Der charismatische Anwalt sprach sie immer wieder auf ihre Erlebnisse an. Und wie schon beim Neujahrsempfang fiel es Gianna überraschend leicht, sich diesem im Grunde Fremden gegenüber zu öffnen. Di Angelo war direkt, ohne mit der Tür ins Haus zu fallen, und nach jedem Gespräch mit ihm hatte Gianna das Gefühl, dass er ihr ein kleines Stück ihrer Last abgenommen hatte. Manchmal lag sie abends im Bett, schloss die Augen und konnte förmlich sehen, wie die Mauer, die ihre Seele umgab, Stück für Stück in sich zusammenfiel.
Doch eines hatten Vincenzo und di Angelo auch gemeinsam: ihre Vorliebe für edle Weine. Wobei ihr Kollege sich mit deutlich geringeren Mengen begnügte als Vincenzo in letzter Zeit. Er füllte Giannas Glas mit einem Allegrini La Poja IGT 2007. »Ein Spitzentröpfchen. Ein hundertprozentiger Corvina aus dem Veneto, der erst im November von Hand gelesen wird. Meiner Meinung nach hat er noch mehr Charakter als der Amarone.« Er prostete Gianna zu. »Was macht eigentlich Ihr Freund, der Commissario? Sind Sie sich wieder nähergekommen?«
Eine direkte, persönliche Frage, die Gianna niemand anderem gestattet hätte. Sie antwortete wahrheitsgemäß.
Di Angelo nickte verständnisvoll. »Das kann ich gut nachvollziehen. Sie haben einen starken inneren Konflikt auszutragen. Allerdings kann Vincenzo nichts dafür. Wenn ich ehrlich zu Ihnen sein darf, würde ich Ihnen dringend raten, eine Entscheidung zu treffen und ihm, metaphorisch gesprochen, reinen Wein einzuschenken. An Ihrer Stelle würde ich mich ein Wochenende in Klausur begeben und in mich hineinhorchen. Entweder wollen Sie es wieder mit ihm versuchen, dann sollten Sie auch dazu stehen und gegen Ihren inneren Schweinehund ankämpfen. Oder Sie entscheiden sich gegen ihn, dann sollten Sie ihn ziehen lassen, ihm das aber auch offen sagen. Wenn ich daran denke, wie er sich in dieser Situation fühlen muss, wird mir ganz schlecht.«
Wird mir ganz schlecht. Und auch Gianna fühlte sich nach dem Gesagten nicht gerade besser. Di Angelo erzählte ihr das, was sie bisher in ihr Unterbewusstsein gedrängt hatte, und er hatte recht. Sie musste für Vincenzo Klarheit schaffen. Aber wie sollte sie das anstellen, wenn sie sich doch selbst unklar war? Liebte sie Vincenzo noch? Waren ihre Zweifel und die Distanziertheit Folge ihrer Erlebnisse, oder waren sie schon vorher da gewesen, und sie hatte sich die ganze Zeit nur etwas vorgemacht? Was war mit di Angelo? War er ihr väterlicher Freund? War sie in ihn verliebt? Er in sie? Die Unsicherheit war einfach fürchterlich.
Es war nach Mitternacht, als di Angelo Gianna vor ihrer Wohnung absetzte. Obwohl sie nicht allein sein und Opfer ihrer Gedanken werden wollte, widerstand sie dem Impuls, ihn auf einen Schlummertrunk
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