Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
gestanden, die Rosen in der rechten, den Champagner in der linken Hand. Hätte er nicht seinen Fall, wäre er die ganze Woche nur von diesem einen Gedanken besessen gewesen, der ihn jetzt quälte: Wie wird der erste Moment der Begegnung sein? Der Augenblick, wenn man sich in die Augen schaut und sofort weiß, was Sache ist.
Alles war möglich. Ein unterkühlter Empfang, gefolgt vom Austausch belangloser Befindlichkeiten, begleitet von gelegentlichem Champagnernippen, endend mit einem sündhaft teuren, aber wirkungslosen Diner. Und zum Abschluss dann ein förmlicher Abschied mit der in solchen Situationen üblichen unverbindlichen Verabredung, demnächst mal wieder zu telefonieren.
Oder der warmherzige Empfang, der Vincenzos Favorit und seiner Einschätzung nach der wahrscheinlichste war. Zum Auftakt Giannas Lächeln, eine Umarmung, nicht leidenschaftlich, aber doch mit etwas Gefühl, das Anzünden von Kerzen, das Leeren des Champagners in gelöster, wenngleich nicht der für ein Liebespaar typischen Stimmung. Eher eine freundschaftliche Konversation, die seit Langem mal nicht von Anspannung und Problemen begleitet sein würde. Dann ein ausgiebiges Menü, phantastischer Rotwein, Espresso und Grappa, eine sich weiter entspannende Atmosphäre mit Scherzen und Lachen, später vielleicht das Angebot von Gianna, auf der Couch im Wohnzimmer zu übernachten und erst nach dem Frühstück nach Hause zu fahren. Sicherlich hatte auch diese Variante das Potenzial, sich zu mehr zu entwickeln, doch daran glaubte Vincenzo nicht. Und es war ihm auch egal. Würde der Abend wie gedacht verlaufen, so verhieß er definitiv eine Aufbruchsstimmung. Keine heiße Liebesnacht, kein überschwänglicher Abschied, aber die Feststellung, dass die Anspannung der letzten Monate endlich von ihnen abgefallen war. In einer solchen Situation wäre selbst die Verabredung zu telefonieren nicht nur so dahingesagt.
Die dritte mögliche Variante wäre allerdings die Krönung. Ein gegenseitiger Blick, eine Umarmung, ein Kuss, Champagner, noch mehr Küsse, das Diner, gefolgt von einer wunderschönen, innigen Liebesnacht, nicht auf der Couch, sondern in Giannas Bett. Und am Morgen tausend Küsse zum Abschied. Eine wundervolle Vorstellung. Und doch gefährlich, denn Gianna könnte ihr Verhalten bereuen und sich wieder in sich zurückziehen. Und dann würden erneut Vernunft und Abwehr Einzug halten. Was kurzfristig wie eine einzige Verheißung erschienen sein mochte, würde wieder nur in eine Depression führen.
In der Hoffnung, von Giannas überraschtem Lächeln empfangen zu werden, klingelte Vincenzo. Keine Reaktion. Er klingelte nochmals. Er war schon im Begriff zu gehen, um in einer der zahlreichen Bars im Zentrum Mailands mit einem Weißwein zu warten, als der automatische Türöffner betätigt wurde. Vincenzo war irritiert. Hatte er Gianna bei etwas gestört? Aber wahrscheinlich hatte sie nur mit einer Freundin oder ihren Eltern telefoniert. Erwartungsvoll stieg er die Stufen ins oberste Geschoss empor. Vincenzo war noch nie hier gewesen. Die wenigen Male, die sie sich seit Giannas Umzug ins Mailänder Zentrum gesehen hatten, hatte sie ihn besucht.
Das Gebäude stammte aus der Gründerzeit. Ein sehr gepflegtes Haus, das sich auf den ersten Blick in tadellosem Zustand befand. Die Hausflure auf den einzelnen Etagen bestanden aus kleinen achteckigen Fliesen in einem warmen Orangeton, jeweils umrandet von violetten Borden, die ihrerseits von grauen Kreuzen durchsetzt waren. Die Fliesen waren auch auf den Steintreppen zum Einsatz gekommen, die durch gusseiserne Geländer mit zahlreichen Verzierungen gesichert waren, die wiederum mit Handläufen aus massivem Holz, Nussbaum, wie Vincenzo vermutete, schlossen. Auf allen Etagen befanden sich zwei Wohnungen, zu denen je eine breite resedagrüne Kassettentür führte, wobei die beiden oberen Kassetten aus einem undurchsichtigen Milchglas bestanden.
Mit dem Gefühl eines Teenagers beim ersten Rendezvous erreichte Vincenzo das Obergeschoss. Gianna stand in der rechten der beiden Wohnungstüren. Freudestrahlend stieg er die letzten Stufen schneller empor und hielt seiner Freundin die Rosen entgegen. »Gianna, ich dachte, weil doch Ostern ist und wir uns so lange nicht gesehen haben, komme ich …«, stammelte er, hielt aber inne, als er in ihr konsterniertes Gesicht blickte.
»Vincenzo, …«, brachte sie hervor, »was machst du hier?«
Er spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Doch er wollte es nicht
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