Goldrausch in Bozen - Kriminalroman
stark genug?«
Vielleicht waren es diese Erinnerung und die damit verbundenen Gefühle, die Vincenzo zum Abheben bewogen, als sein Festnetzanschluss klingelte und er Giannas Nummer erkannte. Die Bilder vom Eis, von einer traumatisierten und apathischen Gianna, der Gedanke an den Inhalt der menschenverachtenden Briefe, alles zusammen erzeugte automatisch etwas ähnlich einer verschwörerischen Nähe. Und für einen Moment waren sie verschwunden, die Bilder von dem fremden Mann in Giannas Wohnung. »Hallo, Gianna, ich habe gerade an dich gedacht.«
»Guten Morgen, Vincenzo. Was ist los mit dir? Du klingst so seltsam.«
Es wunderte ihn nicht, dass Gianna sofort spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie war so facettenreich. Als Anwältin analytisch, konzentriert, durchsetzungsfähig, als Privatmensch gleichermaßen sensibel mit einem Gespür für die Stimmungen ihrer Mitmenschen. Und erst recht für die von Vincenzo, den sie schon lange kannte und von dem sie wusste, dass er kein Mensch war, der sich gut verstellen konnte. Er erzählte ihr von seinem Einsatz in den Bergen und davon, was die Erlebnisse im Eis und die damit verbundenen Erinnerungen abends mit ihm gemacht hatten.
»Ich verstehe dich gut, Vincenzo. Mir geht es immer noch fast jeden Tag so. Mein Therapeut redet mit Engelszungen auf mich ein, versucht mir klarzumachen, dass du und deine Polizeikollegen, dass ihr alles getan habt, um mich zu retten. Dass mein Entführer skrupellos und berechnend war und genau wusste, was er bei mir mit seinem Verhalten auslösen würde. Dass er nur das Ziel verfolgte, dir auf diese perfide Weise zu schaden. Intellektuell kann ich das verarbeiten, weiß vom Verstand her, dass er recht damit hat. Aber ich komme nicht darüber hinweg, nicht über meine Gefühle, die täglich wachsende Freude, die ich empfand, wenn er zu mir kam. Für mich war er wie ein Beschützer. Ich denke, wir wissen beide, dass das der eigentliche Grund für unsere Krise ist.«
Vincenzo nickte für Gianna unsichtbar. Sie sagte die Wahrheit. Stundenlang hatte er im Internet recherchiert, um sich über das Stockholm-Syndrom zu informieren, hatte sogar Albertazzi angerufen, der ihm alles bestätigte, was er herausgefunden hatte. Doch auch der Psychiater konnte nicht verhindern, dass sich Vincenzos Verstand und sein Gefühl eine erbitterte Schlacht lieferten. Wieder sah er den charismatischen Anzugträger hinter Gianna in der Wohnungstür stehen. Seine Stimme wurde fester, härter. »Das gibt dir noch lange nicht das Recht, hinter meinem Rücken eine Liaison einzugehen. Ich war immer für dich da. Du hättest jederzeit mit mir reden können.«
Er hörte Giannas Atem, dann ein Klicken. Sie hatte aufgelegt. Wutentbrannt schmiss Vincenzo den Hörer auf das Bett, bereute in derselben Sekunde aber schon wieder sein Verhalten. Er rief Gianna zurück, erreichte aber nur den Anrufbeantworter. Er hinterließ eine Nachricht, in der er sich entschuldigte. Sekunden später klingelte sein Telefon erneut.
»Dieser Mann, das ist ein Kollege und inzwischen auch ein guter Freund, mehr nicht.« Sie hörte sich an, als hätte sie geweint. Dann schilderte sie Vincenzo die Hintergründe der neuen Freundschaft. Die Allianz ihres Vaters mit Lorenzo di Angelo, ihre gemeinsamen Fälle, wie und warum daraus eine Freundschaft geworden war. »Dass du in dieser Situation für mich der falsche Ansprechpartner gewesen wärest, ist doch wohl einleuchtend. Lorenzo ist älter, hat mehr Lebenserfahrung, er geht auf mich ein. Der Therapeut versucht mich zu therapieren, aber Lorenzo hört einfach nur zu und vermittelt mir allein durch seine Anwesenheit ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Jedenfalls mehr als der Psychologe, mit dem ich aber weiß Gott nicht unzufrieden bin. Am besten wäre es, du würdest Lorenzo kennenlernen und dir selbst ein Bild von ihm machen. Dann würdest du auch begreifen, wie unbegründet deine Eifersucht ist.«
Vincenzo zwang sich, sein Misstrauen runterzuschlucken. Wie viel Verständnis sollte, musste er in dieser Situation wohl noch aufbringen? Er schaute auf seine Armbanduhr. Halb neun durch. Um neun war er mit Marzoli und Mauracher verabredet. »Ich muss dringend los, Gianna, aber lass mich noch eines sagen: Ich liebe dich genauso wie vorher, und ich glaube dir. Trotzdem muss ich diesen Lorenzo deswegen nicht gleich kennenlernen. Vielleicht ja später irgendwann einmal. Sollen wir am Wochenende mal länger telefonieren?«
Gianna überraschte ihn, indem
Weitere Kostenlose Bücher