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Goldstein

Goldstein

Titel: Goldstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Kutscher
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wusste nur, dass ihn alles, was mit der Welt seines Vaters zusammenhing, seither abstieß, diese strenggläubigen Selbstgerechten, mit denen Nathan Goldstein sich immer umgab, mehr denn je, seit ihm die Frau weggestorben war. Der Alte und sein Gejammer, das er Beten nannte, das aber nichts anderes war als Selbstmitleid – Abe hatte es irgendwann nicht mehr ertragen können, hatte die elterliche Wohnung immer häufiger geflohen und war eines Tages, er war gerade vierzehn geworden, einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Besser ein ungewisses Leben, als zu Tante Esther geschickt zu werden, die gar nicht seine Tante war, oder in ein Heim, denn genau das hatte der Alte vorgehabt, als er merkte, dass er seinem Sohn keine Befehle mehr erteilen konnte.
    Abraham Goldstein wusste damals noch nicht viel vom Leben, aber eines wusste er genau: dass er niemals so werden wollte wie sein Vater.
    Er wollte Amerikaner sein, kein Jid, der täglich sein Schicksal beklagt und Jahwe die Ohren volljammert, der nichts kennt, nichts kennen will außer Mischna und Gemara, der nicht einmal vernünftig Englisch spricht und Angst hat vor jedem Amerikaner,als sei jeder Goj ein russischer Kosak, der ihm ans Leben wolle, ohne zu sehen, wie lächerlich so etwas ist, mitten in Williamsburg. Nein, Abraham Goldstein, den alle im Viertel nur Abe nannten, auch das zum Ärger seines Vaters, hatte beschlossen, keine Angst mehr zu haben. Keine Angst vor den Gojim, keine vor den Juden und auch keine vor Gott.
    Bei den Jungs von Fat Moe hatte er schon herumgehangen, bevor er den jammernden Vater und die miefige kleine Wohnung hinter sich gelassen hatte; Moes Jungs sollten für ihn die Familie werden, die er nie hatte, durch und durch amerikanisch, auch wenn sie allesamt Juden waren. Amerikanische Juden, die nicht jammerten, die ihr Schicksal nicht beklagten, sondern gerade bogen, wenn es nicht so lief, wie es sollte. Mit der Welt seines Vaters hatte das alles nichts mehr zu tun. Mochten sie auch in denselben Straßen unterwegs sein, im selben Williamsburg unter demselben grauen amerikanischen Himmel, so wandelten sie doch in verschiedenen Welten. So verschieden, dass sie sich nicht einmal mehr begegneten, obwohl Nathan Goldstein jeden Tag zu Fuß über die Williamsburg Bridge spazierte, zu seinem Arbeitsplatz, zu Greenbergs Kleiderfabrik in der Lower East Side, jeden Tag hin und zurück, zu geizig oder zu arm für die Fahrt mit der Jamaica Line. Abe sollte seinen Vater erst wiedersehen an jenem Tag, als die sterblichen Überreste von Nathan Goldstein auf dem Linden Hill Cemetery zur Beisetzung vorbereitet wurden. Abe war so betrunken, dass er sich später kaum an diesen Tag erinnern konnte, nur dass die dunklen Kaftanträger mit den langen Bärten, die Freunde seines Vaters, schon beim Kaddisch waren, als der bartlose, betrunkene Sohn des Verstorbenen in die Zeremonie platzte. Da Abraham Goldstein ohnehin nicht mehr in der Lage gewesen wäre, mitzubeten, ja sich eigentlich kaum noch auf den Beinen halten konnte, hatten die schwarzen Männer ihn behutsam in ein Taxi gesetzt und weggeschickt.
    Das war das letzte Mal, dass er mit Schwarzhüten etwas zu tun gehabt hatte. Und ausgerechnet in Berlin war er nun wieder mitten unter ihnen.
    Der Mann, zu dessen Laden er ins Souterrain hinabstieg, sah nicht aus wie ein Jude, jedenfalls war es kein Schwarzhut. Ein Handwerker in einem grauen Kittel, der gerade an einem undefinierbaren Werkstück herumfeilte, ein kleiner dürrer Mann, miteiner Halbglatze und einem Kranz dichter Locken rund um den kahlen Schädel. Der Mann schielte über seine Drahtbrille, als Goldstein den Laden betrat, der eher eine Werkstatt war. Er sagte nichts, kein »Sie wünschen?«, kein »Guten Tag«, er schaute nur kurz auf, und dann begann die Feile wieder zu kratzen.
    Richard Eisenschmidt, Werkzeuge , so stand es draußen über dem Eingang auf einem unscheinbaren Holzschild, und Goldstein vermutete, dass es sich bei dem wortkargen Mann um den Inhaber mit dem treffenden Namen handelte. Er blieb ebenso schweigsam wie der dürre Mann, ging langsam in den dunklen Raum hinein und schaute sich die Dinge in den Regalen an, ölige Metallteile, er konnte verschiedene Bohrer und Fräsköpfe erkennen, aber die Bedeutung der meisten Werkzeuge blieb ihm fremd. Der Handwerker beobachtete ihn die ganze Zeit, obwohl es so aussah, als konzentriere er sich allein auf seine Feile und das Werkstück. Erst als der lange Schatten des Kunden direkt auf die Drehbank

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