Goliath: Roman (German Edition)
spüre in Ihnen einfach eine tiefe Isolation, wie eine geschwächte Spiritualität sie verursachen kann. Sie haben das Bedürfnis, die Gegenwart des Göttlichen zu spüren, aber Sie haben Angst. Warum haben Sie so viel Angst, Mr. Wolfe?«
Gunnar wendet den Blick ab.
»Offenbar haben Sie allerhand Dinge getan, auf die Sie nicht sehr stolz sind. Aber Sie werden keine Vergebung für Ihre Sünden finden, wenn Sie sich vom Göttlichen abschließen.«
»Also, besonders religiös war ich eigentlich nie.«
»Ich spreche nicht von einem Gott im religiösen Sinne, sondern von einer göttlichen Gegenwart, die unserem Leben eine Basis gibt, einen Geist, der uns von innen her leitet. Ohne diese spirituelle Einstellung sind wir nur Schiffe ohne Ruder, die ziellos dahintreiben.«
»Früher hatte ich durchaus ein Ziel. Ich war ein US Ranger, voller Energie und Schneid, der an Pflicht und Ehre glaubte. Schließlich war ich einer von den tollen Burschen, die gegen die Feinde meines Landes kämpften und ihr Leben aufs Spiel setzten, um Dinge wie Demokratie, Freiheit und die sogenannten Menschenrechte zu schützen. Mein Selbstbewusstsein hat zum Himmel gestunken. Wenn ich in den Spiegel geschaut hab, war ich allen Ernstes stolz auf das, was ich da sah.«
»Und jetzt?«
Gunnar schnaubt verächtlich. »Jetzt sehe ich nur ein erbärmliches Etwas, das sein Leben vergeudet hat.«
»Wir leben in einer Welt, in der die Gewalt so alltäglich geworden ist, dass sie uns kaum mehr auffällt. Ein wahnsinniger Hass überwältigt die geistige Dimension unseres Lebens. Wir suchen nach Sinn, doch wir finden nur Chaos.« Trevedi schließt die Augen. »Früher, als die Tibeter noch isoliert im Himalaja lebten, glaubten sie, ihr Land werde für immer eine Insel der Ruhe bleiben. Nachdem die chinesischen Kommunisten mein Land überfallen haben, waren wir gezwungen, zu den Waffen zu greifen, und das hat unsere Philosophie zutiefst erschüttert.«
Der Tibeter öffnet die Augen und erwidert Gunnars Blick. »Auch mein eigenes Leben war pure Heuchelei. Die Mönche haben uns gelehrt, Gewalt könne nur durch friedliche Mittel überwunden werden. Nur durch den Tod des Selbst, den Tod des menschlichen Ego könne man der Erleuchtung näher kommen. Trotz dieser Lehren habe ich immer nur Gewalt erlebt, weil meine Seele vom mörderischen Ego unserer Unterdrücker gefoltert wurde. Mein Vater war erst drei, als die Chinesen in Tibet einmarschiert sind. Viele Tibeter, darunter auch meine Großeltern, wurden zusammengetrieben und eingesperrt. Als Tausende von Mönchen friedlich dagegen protestierten, wurden sie von den chinesischen Soldaten erschossen. Zwei Tage später hat mein Vater die Leichen seiner Eltern entdeckt. Sie hingen in Zwangsjacken an einem Baum.«
Trevedi senkt den Blick. »Das war die grausame Gesellschaft, in die ich hineingeboren wurde, eine Gesellschaft, in der mein Volk zur Minderheit in seiner Heimat geworden ist. Meine Eltern waren Bauern, durften aber wie viele Tibeter nicht arbeiten und mussten ihr Essen jeden Tag erbetteln. 1990 hat Ngawang, meine ältere Schwester, mit einigen anderen Nonnen des Klosters Garu an einer Demonstration in Lhasa teilgenommen, bei der sie ›Freies Tibet‹ gerufen hat. Dafür haben chinesische Soldaten sie festgenommen. Bei ihrem Verhör hat man sie nackt ausgezogen und in Handschellen gelegt, dann haben Wächterinnen sie mit Bambusstöcken geschlagen. Neun Tage hat sie ohne Essen in einer Einzelzelle gelegen. Schließlich hat man sie in eine Zelle mit mehreren anderen Nonnen gesperrt. Die Wachen haben die Frauen immer wieder ausgezogen, ihnen Elektrostäbe in den Mund gesteckt oder Stromkabel um die Brüste gebunden. Man hat sie vergewaltigt, ist mit Stiefeln auf ihren Händen herumgetrampelt und hat sie ins Gesicht und den Magen getreten. Manchmal haben die Chinesen den Nonnen Eimer mit Urin und Kot auf den Kopf gestellt und an den Eimern gerüttelt, bis den Frauen die Brühe übers Gesicht gelaufen ist; dann haben sie ihre magere Tagesration genommen, sie hineingetaucht und gezwungen, das Zeug zu essen. Meine Schwester hat mir erzählt, einige der Wärter seien so besessen von ihrer Macht geworden, dass sie einigen der Nonnen die Brüste abgeschnitten hätten.«
»Mein Gott …«
»Meine Schwester war zwei Jahre im Gefängnis, Mr. Wolfe. Drei Tage, nachdem man sie freigelassen hatte, ist sie in meinen Armen gestorben. Eine Woche später sind Soldaten gekommen, haben mich mitgeschleppt und beschuldigt,
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